Es wurde um die Wette gebaut. Jetzt verschandeln Ruinen häufig die Küste. Dennoch ist die Region nach wie vor ein naturbelassenes und kulturell spannendes Reiseziel.

Ziegenglöckchen bimmeln vom Strand herauf. Mehmet treibt seine Herde durch Macchia zu den duftenden Kräutern am Hochufer. So macht er es seit über 20 Jahren - wie sein Vater und Großvater zuvor. Aber Mehmet ist zornig. Früher, und das sei gerade mal fünf, sechs Jahre her, konnte er kilometerweit ungehindert mit seinen Schafen und Ziegen herumziehen, durch Olivenhaine, Orangenplantagen und zu den salzwürzigen Weiden der Küste. Und nun? Rechts klotzt eine große, triste Ansammlung von Ferienwohnungen, links eine Siedlung eintöniger Häuschen, und selbst hier, mitten auf der Wiese, ist der Claim für "exklusive Luxusvillen" bereits abgesteckt.

Wer nach etlichen Jahren wieder in den Norden der geteilten Insel reist, unverbaute Küsten und eine überschaubare Touristenzahl in bester Erinnerung, reibt sich erst einmal die Augen. Was ist in kurzer Zeit passiert? In den nur wenige Kilometer breiten Streifen zwischen Meer und Gebirge fressen sich entlang der Küste Anlageobjekte in Form von Ferienimmobilien, dicht aneinander. Geklonte Geistersiedlungen, denn fast alle stehen leer. Die Bautrupps sind abgezogen, zurück bleiben Bauruinen vom Betongerippe bis zum fast fertigen Haus. Wer will das kaufen, auch wenn die Bauschilder der Projekte wie "Sea Heaven", "Hill Paradiese" oder "Lemon Tree Dream Villas" bereits mit Schnäppchenpreisen locken?

Die EU-Euphorie vor 2004 hat einen gigantischen Bauboom losgetreten. Nach der (allerdings vergeblich) erhofften Widervereinigung wollte der Norden verständlicherweise auch einen guten Teil vom Tourismuskuchen abhaben. Investoren und, so wird gemunkelt, internationale Geldwäscher, bauten um die Wette: Nicht etwa geschmackvolle Ferienanlagen, die nachhaltig an Natur- und Kultur-Tourismus interessierte, zahlungskräftige Besucher begeistern könnten, sondern planlos hingeklatschte Siedlungen, die unwiederbringlich beachtliche Teile des Landes sinnlos zubetonieren.

Und doch: Trotz aller Verletzungen konnte Nordzypern sich mancherorts noch seinen Charme bewahren. Das alte Kloster von Bellapais hoch an der Bergflanke über der Hafenstadt Girne (Kyrenia) zum Beispiel: Um die stimmungsvollen Klosterruinen kreisen Bergdohlen, Palmen wiegen sich fotogen vor gotischen Bögen. Auch wenn viele Orangen- und Limonenbäume Häusern weichen mussten - wer in der Taverne vor dem Glockenturm beim "Baum des Müßiggangs" rastet, ahnt vielleicht, warum der britische Erfolgsautor Lawrence Durrell 1957 genau hier seinen Zypern-Roman "Bittere Limonen" über die unruhigen 1950er-Jahre ersann.

Die kreisrunde Hafenbucht von Girne war zu Durrells Zeiten sicher noch nicht so herausgeputzt. Hipp und schnuckelig zugleich gibt dieser postkartenschöne Platz im Schatten des wuchtigen Kastells den Treff für Touristen und Einheimische. Von Minarett und Kirchturm bewacht, ist der handliche Hafen sicher der schönste der gesamten Insel. Yachten, Ausflugsboote und Fischerkähne dümpeln einträchtig an der Mole, wo sich die Tische der Restaurants drängen.

Immer wieder überrascht die Insel mit abrupten Kontrasten. Dort, wo die Interventionstruppen 1974 landeten, zeigt ein martialisches Denkmal wie ein Geschütz nach Süden, und ein Stück landeinwärts verzaubert ein verschwiegenes Flusstal voller Orchideen, Schwertlilien und Alpenveilchen. Am Waldrand exerzieren Soldaten auf einem der Truppenübungsplätze, und auf den Klippen, von sanfter Meeresbrise umfächelt, liegen die Ausgrabungen von Vouni in einsamer Aussichtslage.

Im Provinzstädtchen Güzelyurt dröhnt gerade lautstark der Gebetsruf des Muezzin vom Minarett, während in der nahen Kirche St. Mammas eine griechische Pilgergruppe dem "Heiligen der Steuerhinterzieher" Unmengen von Kerzen opfert. Ganz im Nordosten schiebt sich die Karpaz-Halbinsel wie ein Pfannenstil ins Meer. Hier scheint die Zeit tatsächlich noch ein wenig stehen geblieben zu sein.

Wogende Kornfelder, helle Kreidehügel, Wiesen voll wolliger Schafe, ganz selten ein kleines Dorf. Dipkarpaz, das Distriktstädtchen am Ende der Welt, hat sicher schon bessere Tage gesehen. Aber ein nagelneues bronzefarbenes Reiterstandbild beherrscht den Hauptplatz, und die Kuppe der großen Moschee blinkt silbern in der Sonne. Von den rund 600 nach der Teilung hier hängen gebliebenen Griechen leben nur noch knapp 250 in der Stadt, meist Rentner.

Ganz am Ende des schmalen Landstreifens, kurz vor dem Kloster des heiligen Andreas, breitet sich der "Golden Beach" mit seiner einzigartigen Dünenlandschaft aus. Hier streifen verwilderte Esel durchs Gelände, und im Sommer kriechen Karetta-Schildkröten zur Eiablage an Land. Über diese bedrohte Spezies wacht Naturschützer Hassan mit Argusaugen. Der verwegen dreinblickende Aussteiger lebt schon seit fast 20 Jahren in dieser paradiesischen Ecke, die sich noch wie vor dem Sündenfall ihrer (fast) unbefleckten Schönheit erfreut. Doch schon droht Ungemach. Amerikanische Investoren gieren auf der gegenüber liegenden Karpaz-Seite nach viel Land, um eine riesige Ferienanlage mit Hotels, Spielbank und Golfplatz zu errichten. Vielleicht habe die Wirtschaftskrise ja auch was Gutes, knurrt Hassan und hofft, dass sich die Pläne einfach in Luft auflösen.

Mag Nordzypern mit seiner in Investruinen erstarrten Hoffnung auf schnelles Geld dem unvorbereiteten Reisenden anfangs auch einiges an Irritationen zumuten - es gibt noch viel zu entdecken, was dann doch immer wieder versöhnt. Ganze Tage kann man bei den drei windumtosten Burgen im Fünf-Finger-Gebirge zubringen. Als Frühwarnsystem gegen Araberüberfälle erbaut, lassen sich Hilarion, Buffavento und Kantara heute mit Wanderstiefeln erobern.

Einen satten runden Kulturtag könnte man bei einem kombinierten Ausflug zum Barnabas-Kloster, der wunderbar zwischen Dünen und Pinienhainen gelegenen spätrömische Ruinenstadt Salamis und der Altstadt von Gazimagusa (Famagusta) verbringen.

Und natürlich die Hauptstadt Lefkosa (Nikosia). Die geteilte Stadt zeigt ihre unterschiedliche Entwicklung am eindrucksvollsten vom Dach des "Satay Hotels". Vom höchsten Gebäude der Nord-Stadt ist die Grenze leicht zu erkennen: im Süden eine Skyline von Hochhäusern, hier niedrige Gebäude, alte Viertel und Moscheen. Doch die Mauer ist durchlässig geworden, und das stärkt den Glauben an eine gemeinsame Zukunft. "Was in Berlin möglich war, wird auch hier passieren", ist sich Cemal sicher, der in der vorbildlich restaurierten alten Karawanserei einen Andenkenladen betreibt. Nebenan zeigt ein Meister des türkischen Schattenspiels seine Kunst. Er ist eher skeptisch, sehnt aber doch die Wiedervereinigung herbei. 35 Jahre Teilung und Benachteiligung seien genug.

Eine Hoffnung, die durch den Wahlsieg der nationalistisch geprägten nordzyprischen Oppositionspartei Partei am 19. April nicht unbedingt gestärkt wird.