Im Hinterland der Karibikküste fand der Schriftsteller Gabriel García Márquez Stoff für seine Romane. Seine Heimatstadt Aracataca tut sich schwer mit dem berühmten Sohn.

Wer die erste Fähre morgens um sieben von Magangue über den Rio Magdalena nimmt, bestellt zum Frühstück gern etwas Kräftiges. Ein Fleischragout etwa, mit Yukka und fritierten Bananen. Wenn ihm dann plötzlich aus der würzigen Soße ein kleiner, spitzer Schädel entgegenblickt und die Köchin lachend erklärt, dass es sich natürlich um Flussschildkröte handle, etwas ganz besonders Feines zu dieser Jahreszeit, ist dies vielleicht der richtige Auftakt für eine Reise in ein Dorf, das es weder auf der Landkarte noch in Wirklichkeit gibt, und das doch in Millionen von Köpfen seinen festen Platz hat: Macondo, der magische Ort aus dem Roman "Hundert Jahre Einsamkeit", an dem Gabriel García Marquez sechs Generationen der Familie Buendía aufstreben, kämpfen, lieben und wieder verschwinden ließ.

Macondo, das ist ein Phantasiegebäude auf realem Fundament, dem Hinterland der karibischen Küste Kolumbiens südlich von Santa Marta, eine Essenz der Sümpfe, der trockenen Weiden und abgeschiedenen Dörfer. Seit es der Regierung gelungen ist, die Guerillas der FARC und die rechten Paramilitärs in entlegenere Gegenden abzudrängen, ist Macondo-Land auch ein faszinierendes Reiseziel.

Mompox war vom 16. bis ins 19. Jahrhundert eine der wichtigsten Städte des Landes, ein lebhafter Handelsort am Fluss. Als aber seine Lebensader, der Arm des Rio Magdalena, versandete und für größere Schiffe unpassierbar wurde, fiel der Ort in Vergessenheit. Niemand steckte mehr Geld hinein - und so erhielt sich die koloniale Altstadt fast unverändert bis heute: Im rechten Winkel stoßen die 200 bis 300 Jahre alten, streng geschlossenen weißen Häuserzeilen aneinander, mit ihren unterschiedlich geschmiedeten Gittern, den Ziegeldächern und begrünten Innenhöfen. Dazwischen erheben sich gleich sechs Kirchen. In der "Casa 1734", dem ältesten Haus, wurde 1987 García Marquez` "Chronik eines angekündigten Todes" mit Ornella Muti verfilmt.

Der Hausherr Simon Dovale schneidet gerade Tomaten fürs Mittagessen. Trotzdem nimmt er sich Zeit, die vom Rauch geschwärzten sieben Meter hohen Mauern in der Küche zu zeigen, die grünen Holzsäulen rings um den Hof und die verwitterten grünen Türen. Die Erhaltung ist kostspielig - dezent verweist darauf ein Zettel an der Spendenbox.

Immer wieder ist in "Hundert Jahre Einsamkeit" die Rede von filigranen Goldfischchen, die Oberst Aureliano Buendía mit großer Leidenschaft herstellt. Das Vorbild dazu fand der Autor, den in Lateinamerika alle nur "Gabo" nennen, in Mompox. 67 Meister fertigen auch heute noch zarteste Schmetterlinge, Ringe oder ganze Handtäschchen. William Vargas hat seinen allerletzten Goldfisch freilich gerade vor ein paar Tagen verkauft. Vor 20 Jahren waren sie ein Renner. Heute sind eher silberne Ohrringe gefragt. Gern führt der 38-Jährige durch seine Werkstatt, wo die Angestellten Silbergranulat zu Barren gießen, diese durch immer dünnere Walzen drehen und ziehen, bis sich am Ende 100 Gramm Silber in 300 Meter Draht verwandelt haben. Der wird verdrillt, mit feinsten Pinzetten gerollt und schließlich zusammengelötet.

Verkauft wird nach Gewicht: 5000 Pesos, rund drei Euro, kostet das Gramm feinster Filigranarbeit. Vor rund 20 Jahren liefen die Geschäfte noch blendend: Die Drogenbarone, die das Gebiet fest im Griff hatten, bestellten Kettenhemden aus Silber, Krönchen für die Damen und ähnlichen sündteuren Schnickschnack. Die Herrn haben sich zurückgezogen - und die Budgets der Touristen sind doch beschränkter.

Im vergangenen November haben heftige Regenfälle das Gebiet überschwemmt. Braun und gar nicht träge zieht der Fluss vorbei und führt Inseln aus Wasserhyazinthen mit sich. Das Boot steuert hinein in das Gewirr der Wasserläufe. Leguane sonnen sich in den Bäumen, Eisvögel jagen und der Carrao stakst auf langen Beinen durchs Feuchte: "Ein Selbstmörder", sagt der Bootsmann. "Er frisst Schnecken. Findet er keine mehr, stürzt er sich in eine Astgabel und bricht sich den Hals." Dichtung oder Wahrheit - phantastischer können auch Gabos Geschichten nicht sein.

In Pijino, einem kleinen Dorf im Sumpf, gibt es Kaffee. Ob man denn schon die Virgen del Carmen besucht habe, fragen die alten Männer im Schatten, die viel zu viel vom Immergleichen gesehen haben. Nein? Dann zurück zur Kirche! Das kleine Bild der Jungfrau Maria stammt aus dem Wasser: Ein Fischer hat das Stück Holz einst gefunden und mit nach Hause genommen. Worauf sich im Verlauf der Tage immer deutlicher und immer farbiger das Bild der Maria abzeichnete. Wer mit dem Taschentuch darüberstreicht, wird seine Kopfschmerzen los. Auch Lahme hat man schon geheilt davongehen sehen.

Das ganze Gebiet war einst in den Händen der Paramilitärs, rechter Schläger- und Killertruppen. Heute säumen in regelmäßigen Abständen Soldaten die Straße - und Schilder beruhigen: "Reisen Sie sicher, Ihre Armee passt auf."

Geboren wurde Gabriel García Marquez 1929 in Aracataca, knappe 250 Kilometer von Mompox entfernt. Ölpalmen haben die Bananenplantagen abgelöst, ein Großteil der 26 000 Einwohner verdient sein Geld damit. Man hat sich in Aracataca lange schwer getan mit dem berühmten Sohn, dem Linken, der zudem in Mexiko und Kuba lebt und, so ein weiterer Vorwurf, seiner Heimatgemeinde nicht mal eine ordentliche Wasserversorgung spendierte. Der Kulturbeauftragte Rafael Darío Jimenez versucht seit 20 Jahren, die Erinnerung an den abwesenden Nobelpreisträger wachzuhalten. Vor kurzem hat der 51-jährige mit den indianischen Zügen ein Restaurant eröffnet - "Gabo" mit Namen, versteht sich. Im Hinterzimmer namens "Salon cien anos de solitud - Salon Hundert Jahre Einsamkeit" hat er eine kleine Sammlung von Devotionalien zusammengetragen: Alte Fotos, Titelseiten von Zeitungen, eine Broschüre über "Aracatacas berühmte Söhne". Und natürlich jenes Exemplar des berühmten Romans, dessen Widmung zugleich ein Seitenhieb auf die einstigen Mitbürger ist: "Für Rafa, mit einer Umarmung, von einem Landsmann, der nichts für das Dorf getan hat, außer dieses Buch zu schreiben - und einige andere. Gabo."

García Marquez` Geburtshaus war verfallen und musste abgerissen werden. In die Querelen über den Umgang mit dem Erbe schaltete sich Premier Uribe persönlich ein, stellte 400 000 Dollar zur Verfügung und ließ an derselben Stelle einen Nachbau hinstellen. Etwas kleiner als das Original, und etwas steril mit seinem Betonboden, den weißgestrichenen Holzwänden und den braunen Türen. Rafael erzählt trotzdem gern, wie der kleine Gabo im Abstellraum in "1001 Nacht" schmökerte oder sich ängstlich am düsteren Zimmer mit den Heiligenbildern vorbeidrückte.

Viel mehr vom Geiste García Marquez` findet sich im Städtchen selbst. Am Sonnabend bauen die Roulettbetreiber ihre Spielfelder auf. Friseure schnippeln, Billardspieler kreiden ihre Queus und aus jedem Laden, jeder Bar dröhnt etwas Leidenschaftliches, Sehnsuchtsvolles, Gefühliges. Es riecht nach Jasmin und Karamel, und vor den sattblauen, honigbraunen, eidechsengrünen und maisgelben Fassaden paradieren junge Frauen in knappsten und buntesten Ringelpullis. Am Bahnhof, von dem im Roman der Zug mit 3000 erschossenen Bananenarbeitern in die Nacht fuhr, wartet ein Mann mit dem Bild eines Hibiskus auf Gesellschaft.

Er nimmt einen tiefen Schluck Aguardiente, stellt sich in Positur und kündigt eine Erklärung an: Er, Luis Agamez, Maler in Aracataca, habe das Porträt des Gabriel García Marquez im Restaurant "Gabo" geschaffen, leider aber vergessen, es zu signieren, weshalb ihm die Stadt bis heute die zustehende Anerkennung verweigere. Nein, Gabo brauchte Macondo nicht zu erfinden. Er fand es vor, mit all seinen Gestalten und Geschichten - und es lebt noch immer.