Geschichtsmeilen, Gedenkstätten und künstlerische Projekte erinnern an das bewegende Ereignis vor zwei Jahrzehnten.

Die Köthener Straße liegt nur wenige Hundert Meter vom Brandenburger Tor entfernt. Neubauten umfassen ein historisches Gebäude, es gibt einen Italiener und einen Klamottenladen, Büros und Wohnungen. Alles passt optisch zueinander. Das Bauwerk Nr. 38 ist die stolze Hinterlassenschaft der Berliner Bauinnung von 1913. Alles, was Architekten, Maurer, Zimmerleute und andere Beteiligte an Baukunst aufwenden konnten, wurde realisiert. Im Meistersaal erhielten die Gesellen jedes Jahrgangs ihr Meisterdiplom überreicht, es wurde gefeiert und an die Zukunft gedacht.

Doch dann kam es anders. Nach dem Zweiten Weltkrieg befand sich das Gebäude als Solitär direkt an der Mauer, der Rest der Köthener Straße war weggebombt. Dahinter erstreckte sich das Brachland des Potsdamer Platzes, einmal der belebteste Ort Europas. Hier, "am Ende der Welt", zog der Unternehmer Ede Meyer mit den Hansa-Tonstudios ein. David Bowie, Iggy Pop, Brian Eno, Depeche Mode, Nina Hagen und Herbert Grönemeyer haben dort ihre Alben aufgenommen. Im Winter 1977 spielte Bowie mit seinem Freund und Produzenten Tony Visconti sein wohl bestes Album "Heroes" ein. Beim Blick aus dem Fenster schauderte es ihn. Der fahl beleuchtete Todesstreifen, knatternde Patrouillen-Trabbis, das Kläffen aus der Hundelaufanlage, auf den Wachtürmen Grenzer mit MP im Anschlag, die Betonröhren als höchstes Mauerelement, damit Kletterer keinen Halt fanden. Die Köthener Straße war das Letzte, das Allerletzte. Beim Schreiben der Strophen für "Heroes" sah Bowie ein Pärchen, seelenruhig spazierte es die Sektorengrenze entlang, umarmte sich im plötzlichen Lichtflash kontrollierender Soldaten. Eine gespenstische Szene. Es war sein Freund Tony, der ein Mädchen küsste. Der Musiker beobachtete alles von der Bar aus, vom Fenster mit der Rundung. Er wollte Tony zurückrufen und war doch von dessen Kaltblütigkeit fasziniert. Bowie kritzelte in seinen Notizblock: "Ich, ich glaubte zu träumen/Die Mauer im Rücken war kalt/Schüsse reißen die Luft/ Doch wir küssen/Als ob nichts geschieht."

Heute zählt der Potsdamer Platz zu Berlins beliebtesten Touristenattraktionen, vor zehn Jahren war er völlig neu bebaut worden von Architekturstars wie Renzo Piano, Richard Rogers und Hans Kollhoff. Von der stolzen Vergangenheit erzählt nur das in moderne Bauten integrierte Weinhaus Huth. Über Jahrzehnte war der Platz eine Leerstelle, ein Ort für Obdachlose und Prostituierte an der sogenannten Entlastungsstraße. Und für Geschichten. Wim Wenders ließ 1987 im Film "Himmel über Berlin" den Schauspieler Curt Bois an der Mauer lamentieren: "Wo ist nur der Potsdamer Platz?" Jetzt flanieren hier Madonna, Tom Cruise und Angelina Jolie mit ihren Kindern, wenn sie in Berlin sind. Bis zu 100 000 Menschen besuchen den Platz - täglich.

Die Frage jedes zweiten BerlinTouristen lautet heute: Wo ist die Mauer, wo sind die Reste des monströsen Betonwalls, der 28 Jahre aus ganz Berlin zwei Halbe machte? Im Überschwang des Zusammenwachsens stand die Mauer im Weg, innerhalb von drei Jahren wurde sie komplett abgeräumt. Aber es gibt noch Teile, im Zentrum lässt sich ihr Verlauf genau verfolgen. Die "Geschichtsmeile Berliner Mauer" markiert eine Linie doppelt gesetzter Pflastersteine, flankiert von 29 Info-Tafeln. Zwischen vermeintlichen Mauer-Echtheitszertifikaten, die Händler verhökern, und geklonten Alliierten-Soldaten in Kostümuniformen, die sich gegen Geld ablichten lassen, sucht der Tourist seinen Weg.

Die Mauer war 155 Kilometer lang und umklammerte West-Berlin. Im Zentrum verlief sie zwischen Reichstag und Brandenburger Tor, vier Meter hoch. 58 Betonteile sind noch erhalten, aber die meisten Leute laufen daran vorbei. Das Gelände wurde aufgeschüttet für Tiefgaragen, dazwischen stehen die Reste, geschmückt von 20 000 Blumen, die der Künstler Ben Wagin im letzten Herbst gesät hat. In dem Stück Land mit der letzten DDR-Grenzkommandantur hat er Buchen, Erlen und Ginkgo gepflanzt, zupft Unkraut und kämpft mit dem Bundestag um das Mauergelände. Der sieht in dem Gelände eine Erweiterungsfläche für Abgeordnetenbauten. Dabei ist der Ort vom Berliner Senat als denkmalwürdig eingestuft worden. Im August will Wargin vor Ort ein Theaterstück inszenieren, Michail Gorbatschow hat jüngst einen Kranz abgelegt, Klaus Töpfer einen Baum gepflanzt. Im Jubiläumsjahr sollen die Leute kommen ins Areal am Marie-Elisabeth-Lüders-Haus. Ein Ort der Erinnerung, sagt der vitale 80-Jährige.

Die zentrale Gedenkstätte steht an der Bernauer Straße, unweit der Friedrichstraße. An der Ecke zur Gartenstraße entsteht ein Informationspavillon mit Filmvorführungsraum, der am 9. November eröffnet wird. Das Haus ist mit rostrotem Cortenstahl verkleidet und ergänzt die bisherige Kapelle der Versöhnung und das Dokumentationszentrum. Die riesige Open-Air-Gedenkstätte hat auch noch knapp 400 Meter Mauer, mit Signalzaun, Kontrollstreifen und Kolonnenweg. In den nicht mehr existierenden Wohnhäusern an der Bernauer Straße - sie wurden von Grenztruppen abgeräumt, um bessere Schusssicht zu haben, eine Kirche dabei gesprengt - spielten sich 1961 dramatische Szenen ab. Menschen seilten sich aus Fenstern und von Dächern in den Westen ab, Mütter warfen Kleinkinder in aufgehaltene Decken und sprangen selbst hinterher. Der Ort ist nach wie vor eine noch nicht vernarbte Wunde.

Über die Invalidenstraße und vorbei am neuen Hauptbahnhof geht es in den Spreebogen. Der Fluss zieht sich in mehreren Schlingen ums Zentrum, in seiner Mitte verlief im Kalten Krieg die Grenze zwischen Ost und West. Im Gewässer spielten sich die spektakulärsten Fluchtversuche ab. Im Juni 1962 kaperten verwegene junge Leute den Ausflugsdampfer "Friedrich Wolf". Sie alkoholisierten den Kapitän und sperrten ihn ein. Nachts gegen 4.30 Uhr fuhren sie langsam in Richtung West-Berlin, beim Einbiegen in den Landwehrkanal gaben sie Volldampf. Die Grenzpolizisten eröffneten das Feuer, das stolze Flaggschiff der Weißen Flotte der DDR zersiebten 138 Schüsse. Die Geflüchteten, darunter ein Baby, erreichten aber das rettende Ufer. Die West-Berliner Polizei ließ den Kapitän seinen Rausch ausschlafen, dann durfte er das Schiff in Ost-Berliner Gewässer zurückbringen.

So glimpflich ging es nicht immer ab. Viele Fluchtversuche scheiterten, bisher steht fest, dass an der Mauer 136 Menschen getötet wurden; wahrscheinlich waren es mehr. Die Forschung zum Blutzoll an dieser Grenze ist noch immer nicht abgeschlossen.

Nahebei liegt die Ebertstraße, hinterm Reichstag in Richtung Brandenburger Tor. Wo heute flaniert wird und Restaurants einladen, stand früher eine Aussichtsplattform, die freien Blick aus dem Westen auf den breiten Grenzstreifen bot. Martialisch hochgerüstetes Militär patrouillierte, Kaninchen hoppelten und eine kleine Erhebung markierte im Gelände den Hitler-Bunker. Dort soll es auch eine geheimnisvolle Tür in der Mauer gegeben haben, niemand weiß mehr, wer sie durchschreiten durfte. Nichts davon ist heute noch zu sehen, die Geschichte ist von Verwaltungsgebäuden des Bundestags überbaut. Abgespeichert ist sie nur noch in den Bildern von einst im Kopf. Unglaublich, wie das Trennende verschwunden ist. Und schön, dass es so ist.