Der stürmische, einsame Landstrich gehört zu den imposantesten Gegenden der Erde, die Natur zeigt sich hier von ihrer besten Seite. Nur die großen Stechfliegen, “tabanos“ genannt, können auf Dauer lästig werden.

Miguel schneidet Grimassen. Ziemlich hässliche, die ganze Zeit schon. Er runzelt die Stirn, er wackelt mit den Augenbrauen und schüttelt den Kopf, es hilft aber alles nichts: Er wird ständig gestochen. Von diesen dicken Fliegen, die in einer großen, schwarzen Wolke über unserem Boot hängen. Miguel muss die Hände am Motor lassen, die Aufhängung ist locker, wenn er nicht kräftig zupackt, geht das Boot durch, also bleibt ihm nur seine Gesichtsgymnastik.

"Mas o menos", hatte er beim Einsteigen auf die Frage erwidert, ob wir die Brummer unterwegs loswerden würden - "mehr oder weniger". Jetzt zischen wir über den Lago de Todos Santos, einen See aus aquamarinfarbenem Glas, hinter dessen Ufer irgendwer einen perfekten Vulkankegel an den Himmel gepinselt hat - die Fliegen aber sind immer noch da. Wir verscheuchen sie mit den Händen, Miguel wird zerstochen. Macht nichts. Der Mann ist ein Gauner. Für das Übersetzen zum Startpunkt des Wanderweges am anderen Seeufer hat er einen Betrag verlangt, für den man in Chile einen Inlandsflug buchen kann. Mitleid darf er da jetzt nicht erwarten.

Im Reiseführer werden die Fliegen übrigens auch erwähnt. Die tabano, eine Pferdebremse, könne in Patagoniens Lake District durchaus "etwas lästig" werden, steht da. Aha. Was nicht da steht: Dass diese Drecksdinger fett wie Hummeln sind, in Geschwaderstärke auftreten und gerne in wirren Flugbahnen um den Kopf ihrer Opfer kreiseln, wobei sie sich anhören wie kleine Helikopter. Unerwähnt bleibt auch, dass man sie nicht abschütteln kann. Am ersten Tag nicht. Am zweiten auch nicht. Vom permanenten Gebrummel bis an die Abbruchkante eines canyontiefen Nervenzusammenbruchs getrieben, sind wir die Etappe des dritten Tages am zweiten dann gleich mitgelaufen. Und näherten uns nachmittags zusammen mit etwa 1017 fliegenden Begleitern unserem Ziel, einem weiteren azurfarbenen See in den Anden. Aus einer verwitterten Scheune trat ein Bauer auf die Wiese. Seine Augen weiteten sich, als er die Wolke über unseren Köpfen sah. Er schaltete sofort. Ob er uns nicht mit seinem Boot hinüber in den Ort fahren solle? Das spare vier Stunden Weg! Wir willigten ein. Für den Preis eines weiteren Inlandsfluges.

Und was lernt man daraus? Dass man sich nicht auf euphemistische Tierweltbeschreibungen in Reiseführern verlassen sollte beispielsweise. Dass "mas o menos" in diesem Teil der Welt ein Ausdruck ist, bei dem man sehr, sehr aufmerksam nachfragen sollte. Natürlich auch, dass der Patagonier an sich einen ausgezeichneten Geschäftsmann abgibt. Außerdem bekommt man einen superben Eindruck davon, wie vielfältig dieses Land ist, das sich da mit doppelter Staatsbürgerschaft von den Grenzflüssen Río Bío Bío (Chile) und Río Colorado (Argentinien) auf beiden Seiten der Anden bis hinunter an das ausgefaserte Ende des Kontinents erstreckt.

Zu Beginn der Reise, in der Tierra del Fuego, da hätten diese Mistfliegen keine Chance gehabt. Sie wären einfach vom Wind fortgerissen worden. Hier bläst es nämlich. Und zwar gewaltig. Im Süden Patagoniens ist der Wind zu Hause. Er stürmt von den Eisfeldern der Antarktis heran, türmt die Wellen im Beagle Channel, und wenn er erst einmal die quer liegenden Andenausläufer hinter sich hat, ist da nichts mehr, was ihn aufhalten könnte. Dann fegt er über die Pampa und treibt ausgerissenes Buschwerk vor sich her, krümmt die Bäume, faucht in langen Schüben über die Ebenen.

Manchmal kann man zusehen, wie eine Böe übers Land zieht, wie sich die Sträucher biegen, zuerst die unmittelbar vor einem, dann die etwas weiter hinten, dann die hinter diesen, und immer weiter, bis zum Horizont. Der ist übrigens oft die einzige Linie, an der das Auge Halt findet. Patagonien ist ein grenzenloses Land. Ein Land der raumgreifenden Weite, der endlosen Pisten und lang gezogenen Staubfahnen - und eines, in dem das Kleine, Unscheinbare plötzlich deshalb so wichtig wird, weil alles andere so unendlich groß ist: Das im Wind kauernde Steinhaus, mit dem irgendwer irgendwann den Naturgewalten trotzen wollte. Die blühenden Blumen, die man plötzlich zwischen all den Flechten und all dem Moos entdeckt. Das Pferd, das neben einem einzelnen Baum steht, und dahinter ist nichts als Grasland, und davor und daneben auch. Dieses Land ist eine einzige majestätische Leere.

Am schönsten bietet sich diese Leere im Nationalpark Torres del Paine - einem Prisma, das den Zauber Patagoniens bündelt. Wind, Wolken, Weite - alles da auf kleinstem Raum. Weil der Trail nie durch den Wald, sondern immer nur durchs Freie führt, vorbei an gleißenden Gletschern, mintfarbenen Seen und zackigen Gebirgstürmen, ist das Wandern wie ein Trip. Die Schatten der Wolken werfen Scherenschnitte auf die Seen, und ab und zu verdunkelt sich der Himmel für Sekundenbruchteile. Noch so ein patagonischer momentito: Wer jemals einen Kondor über sich streichen gespürt hat, gibt der Inka-Combo in der Fußgängerzone demnächst zwei Euro, wenn sie "El Condor Pasa" anstimmt.

Statt Andenklängen gibt es am nächsten Tag "Star Wars". Im Bus, auf dem Fernseher überm Mittelgang. Teil Eins, Teil Zwei, Teil Drei, dauert ja lange genug, die Fahrt. Busse sind die Hauptverkehrsmittel in diesem Teil der Welt, in dem das Land sich auszustrecken scheint, als wolle es jeden Quadratkilometer unseres Planeten füllen.

Busse bringen einen überall hin, über Berge, über Staatsgrenzen, und huckepack auf der Fähre auch über Meeresarme, meistens aber über staubende Pisten, die bei uns ausschließlich für landwirtschaftliche Nutzfahrzeuge freigegeben würden. Als Passagier schaut man entweder 13 Stunden galaktisches Geballer oder aus dem Fenster: Da kommt nichts. Stundenlang. Die Landschaft zieht an den Busfenstern vorbei wie ein Experimentalfilm mit Endlos-Kamerafahrten. Man sieht keine Tiere, man sieht keine Pflanzen, und Menschen sieht man erst recht nicht. Stunde um Stunde vergeht, ohne dass man etwas davon mitbekommt.

Ushuaia klammert sich an den Rand der Welt, als habe es Angst, hinunterzufallen. An sonnigen Tagen liegt die Stadt mit ihren steilen Straßen wie ein feuerländisches San Francisco am Beagle Channel, an schlechten Tagen hat sie einen direkten Zugang zu Teufels Waschküche. Dann brodelt das Meer, und die Wolken kommen aus den Bergen bis hinab in den Hafen. Maria schaut aus dem Fenster, schüttelt den Kopf und tätschelt Bambi das Fell. Maria ist die Besitzerin unserer Bed&Breakfast-Unterkunft, eine resolute Frau, die pausenlos auf ihre Gäste einredet. Wir haben ihr gesagt, dass wir nur bruchstückhaft Spanisch sprechen - sie hat es offensichtlich nicht verstanden, so bruchstückhaft ist es. Bambi heißt ihr verrückter Hund. Während Maria ununterbrochen redet, kläfft und knurrt er ununterbrochen. Sonst auch.

Man bekommt sehr schnell Kontakt in Patagonien, wo es ein lukrativer Nebenerwerb ist, müden Trekkern Gästezimmer anzubieten. Leider aber nimmt man keinerlei akustische Rücksicht auf die Gäste - man schreit, bohrt, zimmert oder debattiert einfach weiter herum, als ob sonst niemand im Haus wäre. Und wenn einem ein Geräusch in Erinnerung bleiben wird, dann ist es das Quietschen der Türen. Es gibt in ganz Patagonien keine Tür, die geölt ist. Keine einzige. Offensichtlich stört das hier niemanden. Auch nicht, wenn zum Quietschen noch das Zuschlagen kommt. Womit wir dann wieder beim Wind wären.

Der nervte irgendwann ein bisschen - worauf wir in den Norden fuhren. Patagonien ist derart groß, dass man nicht nur verschiedene Landschaften, sondern auch unterschiedliche Klimazonen kennenlernt, wenn man es durchquert: Wer fünf bis sieben unterschiedliche Länder auf einer Reise sehen möchte, ist hier richtig. Je weiter man nach Norden kommt, desto wärmer wird das Wetter, desto sanfter sind die Landschaften, desto lauer ist der Wind - was einer Trekkingreise insofern im Wege steht, als man jetzt erst einmal alles machen möchte, was im rauen Feuerland nicht möglich war. Im Hafen von Puerto Montt konnte man bereits mit dem T-Shirt in der Sonne sitzen und frischen Lachs essen, in Frutillar lagen die Leute im Gras am Seeufer und schauten hinüber zum Osorno, der so tat, als bewerbe er sich für die Schneekoppe-Werbung. In Valdivia herrschte dann endgültig Sommer. Und in Pucón war bereits der touristische Teufel los.

Pucón ist so was wie Chiles Antwort auf Neuseelands Queenstown - eine Outdoorstadt der Adrenalinschübe, Cafes und Kneipen. Und der heißen Quellen, die überall aus dem vulkanischen Boden sprudeln und trotz ihres heißen Wassers wunderbare Chill-out-Zonen abgeben. Um für den Rest der Reise nicht komplett zu versacken, beschlossen wir eine letzte Trekkingtour. Zum Glück haben wir im Parkbüro zuvor gefragt, ob dort draußen möglicherweise tabanos herumbrummen. Die Rangerin schmunzelte, antwortete mit einem "mas o menos".

Wir gingen zurück in die Kneipe.