Wer hier durch Berglandschaften streift, erlebt viel zwischen Buschland, Schneefeld und tiefem Tal - auch wenn Steinbock und Bartgeier ausbleiben.

Auf dem großen, flachen Plateau südlich vom Dreibündenstein oberhalb der Kantonshauptstadt Chur steht es plötzlich da - das Murmeltier. Es grüßt. So lässt sich jedenfalls der scheue Blick mit einem Augenzwinkern deuten. "Das war doch ein Augenzwinkern", versichert sich Iris, die Wanderin. Immer noch schaut das Murmeltier die Gäste in den Bergen an, es hat sich auf etwa 45 Zentimeter Höhe aufgerichtet, zeigt also volle Körpergröße. Doch die paar Sekunden, die es posiert, reichen den Hobbyfotografen nicht, die Kamera auszulösen. Sie lichten dafür später einen Kollegen des possierlichen Tieres im Bündner Naturmuseum unten in Chur ab.

Wandern in Graubünden, dem mit 7106 Quadratkilometern größten Schweizer Kanton, ist eine Freiluftübung der besonderen Art. Den Steinbock, das Wappentier der Graubündner, trifft man im Stadtbild, auf der Rätischen Bahn oder im Signet der Hauptstadt Chur häufig an. Nur: Wo steckt er draußen in der Natur? Muss schon wieder Ersatz geschaffen und eins der zahlreichen Museumsexemplare fürs Foto herhalten?

Da viele Wege nach Rom führen, aber angeblich der schönste durch Chur - den ältesten Ort der Schweiz, seit 5000 Jahren ist er besiedelt -, soll die Wanderreise auch dort beginnen. Die Seilbahn und danach die Gondelbahn bringen die Wanderer hinauf zum Hausberg Brambrüesch. Da braucht man schon ein paar Anläufe, um das Wort auszusprechen. Was es genau bedeutet, wissen auch die Einheimischen nicht. Vieles in Graubünden stammt aus dem Rätoromanischen, einer Art Vulgärlatein, das noch in vielen Tälern gesprochen wird.

Brambrüesch ruht einen Kilometer höher als Chur auf 600 Metern. Hoch über den 500 Geschäften und 130 Restaurants, näher an den 937 Bergen des Kantons ist die Luft einfach besser. Das Wanderziel heißt Feldis, ein Dorf aus Holzhäusern mit Blumenkästen unter den Fenstern, 140 Bewohnern und hübsch anzuschauen. Es passt in jedes Bilderbuch über Graubünden. Vier bis fünf Stunden Fußweg sind der Einsatz.

Was die Tiere angeht, hält sich der Steinbock auch nach einer Wanderstunde noch recht bedeckt. Er hat anscheinend keinen Bock, sich öffentlich zu zeigen. Dafür waren oben am Brambrüesch Alphornbläser aus Arcas zu hören und zu sehen. Sie machen tierisch gute Musik, selbst der kleinste von ihnen, kaum ein Jahr alt, darf mal in das lange Holzrohr blasen. Dem Bartgeier wird es dort zu viel Trubel sein, weshalb auch er sich nicht blicken lässt. Ein paar Kühe mit großen Glocken am Hals sind das nächste Tierische, was die Wanderer sehen. Der Weg schlängelt sich hinauf Richtung Dreibündenstein (2160 Meter), doch so viel Anstrengung muss gar nicht sein. Der rund zwölf Kilometer lange Pfad nach Feldis führt auch parallel zum Hang durch Buschland - rechts fällt immer der Blick ins Rheintal.

Und die Tiere? Kein Steinbock, kein Specht, kein Bartgeier, aber Rinder und junge Kühe, die noch keine Milch geben. Wer soll auch da oben zweimal am Tag zum Melken kommen? Vom Frühjahr bis Ende August gewinnen die Rinder an Höhe, dann sperrt der Bauer die obersten Wiesen ab und treibt seine Tiere wieder nach unten. "Da ist das Gras dann nachgewachsen", sagt Georg, der am Sonntag in der Hütte "Term Bel" des Skivereins Dienst hat. Doch bis der Wanderer dort ist, etwa anderthalb Stunden vor Feldis, muss er noch an den übrigen der 180 Rinder des Bauern vorbei.

Vor der Bergkulisse mit Schneefeldern und tiefen Tälern sehen die Vierbeiner in etwa 2000 Meter Höhe lustig aus. Sie kommen näher. Sie schnuppern. Sie wollen Iris' Hand lecken. "Wirklich neugierig", sagt die Wanderin. Dann wieder geben sie ein recht bizarres Bild ab an der Baumgrenze zwischen Heidekraut und Murmeltierlöchern.

Und da stehen auch die anderen Wesen wieder. Sie grüßen. Sie schauen. Nach zwei oder drei Sekunden, als sie die nächsten Rinder anmarschieren hören, verschwinden die Murmeltiere wieder, lautlos. Auf ihr typisches Pfeifen scheinen sie heute zu pfeifen.

Georg von der Almhütte hat Gerstensuppe im Angebot, eine Bündner Spezialität. Sie ist nahrhaft. Die Zutaten hat er im Rucksack heraufgeschafft, gekocht wurde die Suppe in der Hütte, die nur am Wochenende bewirtschaftet ist. "Ruhig hier oben, wir laden uns am Wochenende Freunde ein", schwärmt er von dem Stück Schweizer Bergwelt, das ihm ans Herz gewachsen ist. "Im Winter ist da drüben ein Natureisfeld", sagt Georg und zeigt Richtung Feldis, "da fahr ich immer gern Schlittschuh."

Einige Gäste haben den Sonntag über schon den Kuchen aufgegessen, den Georg bereithielt. "Hochbetrieb", freut er sich. Ein paar Mountainbiker ziehen vorbei. Ein Pferd ist zu sehen, ein Esel läuft auf dem Spazierweg den Wanderern entgegen und lässt sich von ihnen streicheln. Grashüpfer in Massen machen den Pfad frei. In dem etwas sumpfigen Tal, aus dem im Winter ein Natureissee wird, schwirren gigantische Libellen herum. Ein Milan kreist darüber. Was weiter unten im Rheintal fliegt, sind nur blecherne Vögel: ein Hubschrauber und ein Sportflugzeug.

Später in Feldis, das noch viele Holzhäuser aus dem vorletzten Jahrhundert hat, gibt es einen harten Kontrast zur verspielten Bergnatur - eine vollautomatische Gondelbahn ohne menschliche Bedienung. Wie von Geisterhand bewegt, öffnen sich die Türen. Es piept. Es blinkt. Gleich ist Abfahrt. Tatsächlich schließen sich die Türen, die Wanderer sind alle drin, und schon rauscht man in die Tiefe. Den Naturliebhabern wird mulmig. Sie denken an James-Bond-Filme, in denen so ein Ding plötzlich mal auf halber Höhe anhält. Doch schließlich hat die rote Kugel den Boden des Rheintals erreicht. Immerhin steht in der Station ein Mensch, allerdings hinter Glas. Die Frau ist freundlich und kassiert. In ein paar Minuten kommt der Bus nach Chur. Dort geht es sofort in die Masanserstraße, wo schon die ausgestopften Steinböcke aufs Foto warten.