Ohne die Tiere gäbe es diese Landschaft gar nicht mehr. Sie halten die Flächen frei, die sich sonst der Wald zurückerobern würde.

Vorsichtig öffnet Schäfer Günther Beuße das große Tor des Schafstalls im Höpen bei Schneverdingen. 140 kleine schwarz gelockte Lämmer kommen herausgeschossen und laufen zu den aufgestellten, schmalen Trögen. Zerkrümeltes Brot ist darin, ihr Kraftfutter.

Die Lämmer sind zwischen zwei und drei Monate alt. 170 ausgewachsene graue, gehörnte Muttertiere warten bereits im Gatter hinter dem Gebäude auf ihren Austrieb. Insgesamt besitzt die Schäferei 550 Heidschnucken, die sich auf zwei Herden verteilen. "13 Herden gibt es noch in der Lüneburger Heide", erzählt Günther Beuße. Seit 1968 ist er Hüteschäfer. Aus Tradition. Auch sein Vater war es.

Das typische Postkartenmotiv mit Lodenmantel, breitkrempigem Hut und langem Handstock (Schäferschippe) stellt Günther Beuße nicht dar. "Die Schäferschippe habe ich zu oft als "Touristensouvenir" liegen lassen. Das wurde mir irgendwann zu teuer", verrät er. Über der traditionellen Schäferweste trägt er eine bequeme Lederjacke, die gegen Wind und Regen schützt: "Die 52 Knöpfe der Weste symbolisieren, dass die Tiere 52 Wochen im Jahr draußen gehütet und nicht aufgestallt werden."

Der Austrieb beginnt täglich um elf Uhr. Gegen 18 Uhr geht es zurück in den Stall. "Zur Heideblütezeit im August und im September stehen manchmal mehr Zuschauer als Schafe vor dem Stall", sagt Beuße. Aber nur mal kurz eine Herde Heidschnucken knipsen, das ist Susanne und Michael aus Essen und Axel aus Hamburg nicht genug. Sie wollen die Arbeit des Schäfers einen Tag lang hautnah miterleben.

Nach 20 Minuten haben die Jungtiere das meiste Brot verzehrt. Die beiden Border-Collies Max und Leica treiben die Herde zusammen. Zu den rund 300 Schafen gesellen sich noch acht Ziegen. Die Führung übernimmt Esel Pinta. "Ein Hobby meiner Frau", verrät Beuße: "Sie wollte vor 20 Jahren einen Esel haben. Nun führt er die Herde an."

Zuerst soll die Herde in den Tunnel, der eine Bahnlinie unterquert. Da streiken fünf Jungtiere. Ihnen gefällt es auf dem Bahndamm. Während Max und Leica die Herde zusammenhalten, versuchen Günther Beuße und seine Schäfergehilfen, die Widerspenstigen Richtung Tunnel zu treiben. Beim zweiten Versuch gelingt es. Zahm ist die Herde. Susanne kann gar nicht genug davon bekommen, die Tiere immer wieder zu kraulen. "Ende Mai wurden sie geschoren", so der Schäfer. Er macht es selbst. Pro Schaf dauert die Schur drei Minuten. Obwohl sie sich weich anfühlt, ist die Wolle unbrauchbar. "Es entstehen sogar noch Kosten für die Entsorgung auf der Deponie. Im Gegensatz zu australischer und neuseeländischer Wolle ist sie zu hart und zu filzig", sagt Beuße. "Auch die Aufbereitung als Isoliermaterial ist heute zu teuer."

Die Heide ist eine Kulturlandschaft. Sie entstand durch den Raubbau des Menschen. Im Mittelalter wurden große Mengen Holz für den Schiffbau und zum Heizen der Salzsiedepfannen in der Lüneburger Saline benötigt. Auf den Kahlschlägen entwickelte sich die Heide. "Heidschnuckenhaltung ist in Deutschland nicht mehr rentabel. Aber ohne die Tiere gäbe es keine offenen Heideflächen mehr, da der Wald die Flächen zurückerobern würde", erklärt der Schäfer. Im Sommer fressen die Schnucken Gras und verbeißen die unerwünschten Baumschösslinge. Besonders die der Birke. Im Winter ernähren sie sich von den Heidepflanzen und sorgen dafür, dass diese im nächsten Jahr wieder neu austreiben.

Wer stundenlang durch die Heide wandert und den Tieren beim emsigen Fressen zuschaut, bekommt Hunger. Zwischen zwei Wachholderbüschen hat Schäferfrau Anke ein blauweiß kariertes Tischtuch ausgebreitet. In die Mitte stellt sie einen hölzernen Schlachtertrog, gefüllt mit belegten Broten und allerlei anderen Köstlichkeiten. Der Renner ist in Wacholder geräucherter Heidschnuckenschinken aus eigener Zucht. Susanne zögert. Sie denkt an die kleinen Lämmer, die sie eben noch gestreichelt hat. Doch Günther Beuße ermuntert sie: "Schafe sind nicht nur zum Anschauen da. Männliche Tiere sind nach acht Monaten schlachtreif. Davon lebt der Schäfer."

Irgendwann sind Mensch und Schnucken satt und ziehen weiter. Sie kommen am künstlich angelegten Heidegarten Höpen vorbei. 75 verschiedene Heidesorten und 60 000 Pflanzen gibt es hier. Irgendeine Sorte blüht immer. An den Heidegarten grenzt ein für die Gastronomie umgebauter Schafstall. Dort finden im Frühjahr Schafschurvorführungen und während der Saison Schäferabende rund um die Heidschnucke statt. Von Weitem grüßt der Wilseder Berg. Mit 169 Metern ist er die höchste Erhebung der Lüneburger Heide. An seinem Fuß liegt das 40-Seelen-Heidedorf Wilsede. Es ist nur per Kutsche, per Fahrrad oder zu Fuß zu erreichen. Unter hohen Eichen und Buchen versteckt, stehen Reetdach-Fachwerkhäuser.

Je näher sie dem vertrauten Stall kommen, desto schneller rennen die Heidschnucken. Für die drei Schäfergehilfen geht ein erlebnisreicher Tag mit viel frischer Luft zu Ende. Für den Fall, dass jemand trotzdem nicht einschlafen kann, hat der Meister noch ein altes Rezept parat: "Schäfchen zählen".