Zum Fest des Heiligen Antonius treten die Viertel in einem bunten Wettstreit gegeneinander an. Gefeiert wird danach in der ganzen Stadt.

Jedes Jahr am 12. Juni kann Lissabon in puncto Lebenslust mit Rio konkurrieren. Wochen davor erfasst die Stadt ein Fieber, in froher Erwartung werden Papierblumen, Girlanden und Laternen an die Altstadtfassaden gehängt. An jeder Straßenecke sieht man improvisierte Biertheken, Tische und Stühle werden geschleppt, Weinfässer gerollt, Holzkohlegrills geputzt.

Die nervöse Geschäftigkeit richtet sich auf die "Festas da Ciudad", eine Mixtur aus Stadtfesten, religiösen Prozessionen und kulturellen Veranstaltungen. Ein Fado-Festival und das alljährliche "Africa-Festival" runden das Spektakel ab. Aber alles ist nur ein müder Abglanz gegenüber dem Fest des Heiligen Antonius, wenn die ganze Stadt Kopf steht. Gefeiert wird an diesem Tag der Patron der portugiesischen Metropole. Der Heilige hätte sicherlich seine Freude daran, seine Schutzbefohlenen in so fröhlicher Verfassung zu sehen - schließlich gilt Lissabon als Hauptstadt der Saudade, jener sehnsuchtsvollen Wehmut, die für Portugal typisch ist.

Santo Antonio hält seine schützende Hand nicht nur über Lissabon, sondern auch über Liebende und Eheleute. Deshalb ist es Tradition geworden, dass die Ereignisse des 12. Juni mit der feierlichen Trauung von 16 Paaren in der Kathedrale Se ihren Auftakt nehmen - dort also, wo der Heilige 1195 getauft worden sein soll. Die Stadtverwaltung richtet die Hochzeit aus, spendiert alles vom Lippenstift über den Brautstrauß bis zur Familienfeier. Um in den Genuss der subventionierten Hochzeit zu kommen, müssen sich die Paare einer strengen Prüfung unterziehen. Bis vor zehn Jahren hatte die Braut sogar noch den Nachweis der Jungfräulichkeit zu erbringen. Nach der Trauung werden die Frischvermählten vor dem Gotteshaus bejubelt. Allen Feierwilligen gilt das als Fanal, denn wenig später ist auch in anderen Vierteln der Teufel los. Im Szeneviertel Bairro Alto drängen Menschenmassen in die Bars, und im engen Treppenlabyrinth des Altstadtviertels Alfama müsste eigentlich ein Schild stehen: "Wegen Überfüllung geschlossen". Bier und Wein fließen in Strömen, und über den sieben Hügeln der Stadt bildet sich eine aromatische Duftwolke, die von Sardinen herrührt, die auf Tausenden von Grills vor sich hin brutzeln.

Das eigentliche Epizentrum des Bebens liegt aber ganz woanders. Auf der Avenida da Liberdade, dem breiten Prachtboulevard, der sanft ansteigend vom Zentrum in die nördlichen Stadtteile führt, macht sich gegen 20 Uhr Spannung breit. Tommelwirbel ertönen, und dann bricht es los - ein furioses Spektakel, ein Feuerwerk der Fantasie, ein Ausdruck überschäumender Lebensfreude. In einem endlosen Strom ziehen Fußgruppen, Sänger, Tänzer, Fahnenschwenker, Trommler und Bläser an Tribünen vorbei, auf denen Einheimische und Touristen begeistert Applaus klatschen. Gegen Mitternacht werden es 20 Gruppen sein, die an den Zuschauern vorbeigezogen sind, denn bei dieser Parade, in Lissabon als "Marchas Populares" bekannt, handelt es sich um einen Wettstreit der Stadtteile. Jedes Viertel schickt eine eigene Formation ins Rennen. Jede Gruppe trägt ihre selbst entworfenen Kostüme, tanzt ihre eigenen Tänze und singt ihre eigenen Lieder, die alle aber meist die Schönheit Lissabons preisen.

Die Ähnlichkeit mit dem Karneval in Rio, bei dem sich Samba-Schulen in einem temperamentvollen Wettstreit messen, ist durchaus gewollt, ja, eine Abordnung aus dem fernen Brasilien führt sogar die Lissaboner Parade an. Ehe es dann richtig kracht, demonstrieren Gruppen aus Madeira und von den Kapverden folkloristische Vielfalt. Danach marschieren sie nacheinander an den Zuschauern vorbei, die Gruppen aus Mouraria, Graca, Alfama, Ajuda, Lapa, Santo Amaro und wie die Stadtteile alle heißen: Tänzerinnen, die rote Federboas, überdimensionale Bienenkörbe, funkelnde Kronen oder gold glitzernde Sterne im Haar tragen. Gruppen, die Kussmundballons schwenken, bunte Styroporfische unter dem Arm halten oder geschmückte Rhönräder vor sich herrollen.

Vor der Haupttribüne steigern sich die Gruppen in rhythmische Gesänge und Tanzvorführungen hinein, lassen Konfettibomben explodieren, ballern aus riesigen Flinten in die Luft oder versprühen zischende Funkenregen. Denn hier sitzen die Juroren, die am Schluss das Siegerteam wählen werden. Schließlich geht es für alle um mehr als nur den Sieg - es geht um die Ehre für den ganzen Stadtteil.

Um bei der Parade eine gute Show abzuliefern, haben sich die Gruppen monatelang vorbereitet, hinter verschlossenen Türen gebastelt, Lieder getextet, sie zusammen eingeübt, eine geeignete Choreografie ausgetüftelt - immer auch in der Angst, dass rivalisierende Stadtteile von der Sache Wind bekommen könnten.

Ausgetragen wurden die Marchas Populares erstmals 1932, als Juden, zugewanderte Marokkaner und Schwarzafrikaner noch eigene Stadtteile bewohnten. Am Tag des Heiligen Antonius wollten sie ihre kulturelle Vielfalt vor einem größeren Publikum demonstrieren. Inzwischen sind alle Unterschiede verwischt, und die 20 Formationen bilden einen bunten Querschnitt aus unterschiedlichen Nationen und Hautfarben.

Gefeiert wird bis in den frühen Morgen, am längsten natürlich in dem Stadtteil, aus dem das Siegerteam stammt. In den vergangenen vier Jahren waren das die Leute aus Alfama, die auch im kommenden Juni wieder als haushoher Favorit an den Start gehen.

Für Lissabon-Besucher wird auch der Morgen danach zu einem einzigartigen Erlebnis. Katerstimmung macht sich breit, auch die letzten Übriggebliebenen haben inzwischen ein Bett gefunden. An den Straßenrändern türmen sich Plastikbecher zu hohen Müllbergen, und wer nicht aufpasst, bleibt mit den Schuhsohlen an einem schmierigen Bierfilm kleben.

Auf einmal ist es kein Problem mehr, in den Straßen-Cafes am Rossio einen freien Stuhl zu ergattern, und die Frühschicht an der Kasse des nahen, 45 Meter hohen Santa Justa-Aufzugs, der die Unterstadt Baixa mit dem vornehmen Stadtteil Chiado verbindet, blickt nur müde auf. Eher unwillig setzt sie Lissabons Wahrzeichen für eine Sonderfahrt in Gang. Ähnlich exklusiv ist auch die Fahrt mit der Electrico der Linie 28. Ruckelnd setzt sich die Tram in Bewegung und streift auf ihrem Weg durch die Gassen hoch zum Miradouro de Santa Luzia fast die Hauswände. Wer anschließend den traumhaften Blick vom Aussichtsbalkon auf das Gassengewirr und die Kirchen von Alfama alleine genießt, fühlt sich ein bisschen priviligiert.

Es kann passieren, dass man knöcheltief durch Abfall watet, wenn man danach durch verwinkelte Gassen zur Festung São Jorge bummelt. Bis in die höher gelegenen Stadtteile haben es die Reinigungskräfte so schnell noch nicht geschafft. Macht aber nichts, denn wenn man an der mächtigen Burgmauer steht, liegt einem eine Stadt zu Füßen, die kollektiv ihren Rausch ausschläft. Und Lissabon, die Heimat trauriger Fadoklänge, wirkt von hier oben so melancholisch wie immer.