Mit dem Zug zum Baikalsee, wo das Leben von der Kälte bestimmt wird - aber die Menschen dafür erstaunlich warmherzig sind.

Von wegen sibirische Kälte! Spätestens hinter dem Ural haben die Passagiere der Transsibirischen Eisenbahn die ersten Hüllen fallen lassen. Der Samowar gluckst vor sich hin, aber während der Fahrt hat keiner so recht das Bedürfnis nach einem Heißgetränk. Das digitale Thermometer im Waggon zeigt 28 Grad Celsius, und es bedarf einiger Überredungskünste, die "provodnica" zur Nachtabsenkung zu bewegen. Die Zugbegleiterin hat nämlich Sorge, dass die verwöhnten Touristen aus Europa frieren könnten.

Der "Baikal" der Irkutsker Ostsibirischen Eisenbahngesellschaft zuckelt bei durchschnittlich 70 Stundenkilometern durch die Taiga. Rah-ta-rah-ta - unaufhaltsam rattert der Zug über die Schwellen gen Osten. Vor dem Abteilfenster zieht die schöne Winterlandschaft vorbei. Auf den Zweigen der Birken und Lärchen lastet Schnee. Aus den Schornsteinen der Holzhäuser steigt Rauch in den blauen Himmel. Und auf den Bahnsteigen warten dick vermummte Mütterchen, um den Reisenden gefüllte Teigtaschen, marinierten Fisch, eingelegte Gurken, Beeren und Zirbelkiefernkerne zu verkaufen.

Drei Tage, vier Nächte und fünf Zeitzonen dauert die Eisenbahnfahrt von Moskau ins 5185 Kilometer entfernte Irkutsk. Irgendwann verliert man das Zeitgefühl in der unendlichen Weite Russlands, zumal die Uhren auch anders ticken. Auf den Bahnhöfen zeigen sie immer Moskauer Zeit an.

Am Jenisej beginnt Ostsibirien. Von nun an muss bei jedem längeren Halt das Eis von den Abflussrohren unter dem Sanitärbereich abgeschlagen werden. Im warmen Mantel, die flotte Zobelkappe auf dem Kopf und das Beil in der Hand, macht sich die "provodnica" ans Werk. Überhaupt sind Raissa und Irina unentwegt damit beschäftigt, für den reibungslosen Ablauf zu sorgen. Zweimal am Tag kurven sie mit dem Staubsauger durch das "Kupe", bereiten Getränke und sorgen dafür, dass die Fahrgäste bei einem Halt rechtzeitig wieder einsteigen.

Auch bei Natalja Belitschanowa, unserer Gastgeberin auf Olchon, der größten Insel im Baikalsee, ist die Bude warm. Das Heizsystem lässt sich nicht regulieren, und wir beschließen, nachts allein auf die dicke Bettdecke zu vertrauen. Nur wenn man mal hinaus muss aufs Plumpsklo, schlägt "Väterchen Frost" erbarmungslos zu. Immerhin lässt der fantastische Sternenhimmel die Kälte vergessen. Das Dorf Chushir wird eine Woche lang Stützpunkt sein für Winterwanderungen. Schnell stellt sich heraus: Wir sind zu warm angezogen! Das Thermometer sackt nachts zuweilen zwar auf 20 Grad unter den Gefrierpunkt, doch tagsüber herrscht eine trockene Kälte, die gut auszuhalten ist. Ob uns mulmig gewesen sei während der Fahrt über das Eis, fragt Natalja, die halbtags im örtlichen Krankenhaus arbeitet. Anfangs schon, doch das komische Gefühl hat sich schnell gelegt, obwohl wir wussten, dass das Ende der Eiszeit noch fern ist.

Zwei Supermärkte versorgen die etwa 1200 Bewohner des Inselhauptdorfs Chushir mit Lebensmitteln. Die große Auswahl an Bier und Wodka im Regal lässt auf regen Konsum schließen. Das Trinkwasser kommt aus den Tiefen des Baikalsees und wird von Tankwagen angeliefert. Russen und mit den Mongolen verwandte Burjaten leben hier.

Das Kap Burchan bei Chushir ist den Burjaten heilig und für Touristen tabu. Denn wenn Burchan, der Geist des Baikal, auf der Erde weilt, wohnt er in dem Schamanenfelsen. Die um Baumstümpfe gewickelten bunten Stofffahnen sollen den Gläubigen Glück bringen. Manche setzen dabei offenbar lieber auf harte Währung. Die "Aussichtsplattform" dem Schamanenfelsen gegenüber ist voller geopferter Kopeken.

Jeder Tag beginnt mit einem bombastischen Frühstück. Es gibt Buchweizengrütze, Milchreis, Hafer- oder Griesbrei, selbst gemachte Marmeladen und Mehlspeisen. Natalja scheint Sorge zu haben, dass uns unterwegs die Kräfte verlassen könnten. Die erste Wanderung führt aufs Glatteis des "kleinen Meeres", das so heißt, weil die Berge des Festlands in Sichtweite sind. Dort scheint es einem unvorstellbar, dass das sibirische Meer 58-mal so groß wie der Bodensee sein soll. Wir haben dem Baikal aus Reverenz eine Verschlusskappe besten Wodkas aufs Eis gekippt. So gehört es sich. War das vielleicht zu wenig? Im Innern des Sees rumort es und es klingt wie ein sich ankündigendes Donnerwetter. Vater Baikal grollt, und nichts scheint ihn besänftigen zu können, seitdem ihn seine Lieblingstochter Angara verlassen und zum Jüngling Jenisej geeilt ist. So jedenfalls erzählen es die Sibirjaken. Unter mehr als 360 Flüssen, die mit dem Baikal verbunden sind, ist die Angara der einzige abfließende Strom.

Die Eisdecke reckt und streckt sich. Dabei knackt es, und manchmal knallt es wie ein Sektkorken. Auch Fischer sind auf dem Baikal. Sie haben Löcher ins Eis gebohrt, an Holzschienen ein Netz ins Wasser gelassen, darüber ein Zelt aufgebaut und einen Kanonenofen hineingestellt. Gefangen wird hauptsächlich Omul, ein dem Lachs ähnlicher Fisch.

In vielen Variationen - gebraten, gekocht, mariniert, geräuchert - bringt auch Natalja den Omul auf den Tisch. Unsere Gastgeberin erzählt viel über das Leben auf Olchon und über die wegelose Zeit im Frühjahr und Herbst, wenn das Eis nicht mehr befahren werden darf und noch keine Schiffe verkehren. Neuerdings versorgt ein Luftkissenboot die Bewohner. Ob sie sich vorstellen könne, mit ihrer Familie wegzuziehen? "Niemals. Jetzt wo wir doch Elektrizität haben und Strom aus der Steckdose." Nirgendwo sei das Wasser besser und die Luft sauberer.

Der Baikal ist mit bis zu 1637 Metern das tiefste Binnengewässer der Erde und zugleich das größte Süßwasserreservoir. Solche Superlative allein schon gebieten einen Platz auf der Liste des Weltnaturerbes der Unesco und damit verbunden ein größeres Augenmerk auf die Ökologie. Trotz der Zellulosefabrik am Südufer und noch fehlender Kläranlagen an dem Zufluss Selenga sind die Selbstreinigungskräfte des Sees intakt. Der Name Baikal entstammt übrigens der Sprache der Burjaten und bedeutet "erhabenste Schöpfung der Natur".

Auch wir entdecken die unermessliche Schönheit des Sees. Östlich der Insel türmen sich gigantische türkis schillernde Eisschollen, die sich über- und untereinander geschoben haben. So stellten wir uns die Antarktis vor, aber nicht den Baikalsee. Voller Faszination stehen wir vor den Eisskulpturen des "Großen Meeres".

Allmählich kriecht die Kälte die Beine hoch. Es wird Zeit, zurückzugehen. Natalja hat die Banja sicher schon kräftig eingeheizt.