Deutschlands größtes Science Center ist über eine Brücke mit der Autostadt verbunden. Wer beides sehen will, sollte zwei Tage einplanen

Mein Sohn hüpft kraftvoll vom Podest auf die mar-kierte Stelle am Boden. Der Monitor zeigt seine Beschleunigung als steile Kurve. Navid blickt Beifall heischend um sich. Dass es eigentlich darum geht, so sanft wie möglich zu landen, ahnt er nicht. Navid ist erst fünf und kann noch nicht lesen. Trotzdem hat er den Test bestanden. Auf seine Art.

"Ich entdecke" ist das Motto vom Phaeno, und Navid hat halt entdeckt, wie stark er ist. So wie der kleine Besucher aus Hamburg soll jeder selbst herausfinden, was die 250 interaktiven Experimentierfelder in Deutschlands größtem Science Center für ihn spannend macht. "Nicht das Wissen steht im Vordergrund, sondern die Erfahrung", sagt Ausstellungsleiter Peter Rösner. Was man nur mit dem Kopf begreift, wird man wieder vergessen, meint der promovierte Physiker. Sinnliche Erlebnisse dagegen prägten sich für immer ein. Selbst, wenn man die naturwissenschaftlichen Phänomene noch nicht interpretieren könne. "Das darf gerne die Schule übernehmen," sagt Rösner lachend.

Mein Fünfjähriger stürzt sich auf weitere Versuche, bei denen Körpereinsatz gefragt ist: Er erzeugt Strom per Muskelkraft und setzt im Laufen eine große Drehscheibe in Bewegung. Dann entdeckt er einen Crash-Test, der alle männlichen Besucher beeindruckt. Geht es doch darum, "volle Pulle" Anlauf zu nehmen und sich ungebremst gegen eine gepolsterte Wand zu werfen. Navid erreicht sagenhafte 5113 "Schmackespunkte", der Wert setzt den Rückprall in Beziehung zur Masse.

Diesmal ist ihm der Beifall sicher. Keiner, nicht mal sein Vater, hat annähernd so viel Schmackes. Und wieder hat der Kleine eine wichtige Erfahrung gemacht, findet der Chef-Physiker: "Man soll nicht bewundern, was wir uns ausgedacht haben, sondern stolz sein auf das, was man selbst zustande bringt." Mission erfüllt, kann man da nur sagen.

Navids großer Bruder Nima ist acht und hat das Alter der Kraftproben schon fast hinter sich. Ihn interessiert eher die Grundlagenforschung. Und so zeigt er uns begeistert eine Lampe, mit der man ins Innere des eigenen Auges blicken kann, und führt uns zum "Buchstaben-Regen": Wir werden gefilmt und auf eine Leinwand projiziert, auf der Buchstaben herunterregnen. Hält man sie an, indem man zum Beispiel die Arme ausstreckt, bekommen sie einen Sinn und bilden Wörter.

Es geht um die Beziehung von Körper und Sprache, darum, dass wir unbewusst den ganzen Körper einsetzen, wenn wir lesen. Das steht im Begleittext, den ich studiere, während Nima schon auf dem Weg zum Strömungsexperiment ist. Spätestens hier mache auch ich eine wichtige Erfahrung: Dass meine Kinder die besseren Forscher sind. Denn ich lese die Erklärungen, bevor ich mich auf die Experimente einlasse, will verstehen, bevor ich begreife. "Kinder sind wie Wissenschaftler," bestätigt Peter Rösner. "Neugierig versuchen und verwerfen sie und finden so heraus, wie die Welt funktioniert." Ich gelobe Besserung und lasse mich ohne theoretischen Überbau auf tanzende Eisenspäne ein, während sich mein Mann akustischen Versuchsanordnungen hingibt.

Wir sind zwar als Familie gekommen, haben uns aber schon am Eingang in unsere Bestandteile aufgelöst. Manchmal treffen wir uns - wenn ein vier Meter hoher Feuertornado gezündet wird oder die riesige Blitzmaschine ihre Kraft versprüht. Doch meist sind wir alleine unterwegs. Und so ist es auch gedacht. Weil uns die Neugierde leiten soll, gibt es keine Wege oder Führungen.

Das Konzept der avantgardistischen Londoner Architektin Zaha Hadid geht auf: Eine 9000 Quadratmeter große Experimentier-Landschaft, durch die man sich treiben lässt. Nachdem er anhand eines ferngesteuerten Marienkäfers herausgefunden hat, dass Käfer aus Gründen der Stabilität beim Laufen stets drei Beine am Boden haben - zwei auf der einen und eines auf der anderen Seite - wird mein achtjähriger Harry-Potter-Fan magisch von einer Zauberkugel angezogen, deren Blitze er durch Handauflegen lenken kann. Navid versucht sich derweil am fliegenden Teppich, und mein Mann ist längst zwischen Getrieben und Generatoren verschwunden.

So offen das Gebäude innen gestaltet ist, so verschlossen wirkt sein Äußeres. Wie eine gigantische Beton-Skulptur, die auf sieben Meter hohen Füßen zu schweben scheint. Ein spitzer Rumpf, schräge Fenster, Automatiktüren. Ganz klar, ein Raumschiff, finden die Jungs. Vor zwei Jahren landete es mitten in Wolfsburg, der Stadt, die vor allem als Synonym für Volkswagen steht. "Der Ort, der den VW-Käfer schuf, eine der legendärsten Gestaltungen des 20. Jahrhunderts, wollte sich nicht mit einer konventionellen architektonischen Hülle begnügen", meint denn auch Bürgermeister Rolf Schnellecke.

Über eine Brücke gelangt man vom futuristischen Phaeno direkt in die gläserne Autostadt, die wir uns am nächsten Tag ansehen, unter anderem, weil zwei Familienmitglieder sich sehr für heiße Reifen erwärmen können. Leider packen wir es falsch an und beginnen mit den Höhepunkten: Erst heizen die Kinder auf Go-Karts durchs betreute "Rumfahrland", dann erleben wir im Flugsimulator ein rasantes Comic-Abenteuer, bei dem das Kino ordentlich durchgerüttelt wird, anschließend ist Fahrprüfung.

Nach zwanzig Minuten Theorie stürzen sich Kinder zwischen fünf und 11 Jahren auf kleine Elektro-Mini-Beetles und zeigen, dass sie in der Tat Vorfahrtregeln gelernt haben. Anfangs halten alle brav an jeder Kreuzung, später wird doch so mancher farbenblind oder verwechselt Dreiecke mit Rauten. Trotzdem bekommen alle den begehrten Führer- schein - eine Plastikkarte mit Passfoto und eigener Unterschrift.

Die "Kids-Tour" durch das ZeitHaus, in dem viel Automobilgeschichte versammelt ist, begeistert die Kinder nicht mehr so, und die Marken-Pavillons finden sie eher langweilig. Bis auf den Lamborghini-Pavillon, in dem ein gelber Rennwagen hinter Gittern kauert, während eine grelle Lightshow und laute Fahrgeräusche das Kind im Manne wecken.

Am Ende wünsche ich mir noch eine Fahrstuhlfahrt in den beiden 48 Meter hohen gläsernen Türmen. In den von Robotern betriebenen Hochregallagern warten nagelneue VW auf Selbstabholer. Leider sind die nächsten Touren ausgebucht, und die Kinder drängeln. Sie wollen noch mal zum Phaeno, die "Gasshow" ansehen.

Gerne lassen wir uns überreden. Im Wissenschaftstheater erfahren wir, wie das Trockeneis entsteht, mit dem der Lamborghini eingenebelt wurde, warum manche Luftballons beim Platzen explodieren und andere nicht und wie flüssiger Stickstoff aussieht. "Das ist ja wie ,Wissen macht Ah!'", rufen unsere Kinder begeistert. Tatsächlich erinnert der Mix aus Überraschung, Belehrung und Unterhaltung an die TV-Sendung.

Das Phaeno ist ein Phänomen, für die Besucher ebenso wie für die Mitarbeiter. Um hier arbeiten zu können, hat der Gasshow-Entertainer Davy Champion, eigentlich Raumfahrtingenieur, ein gutes Angebot von Airbus ausgeschlagen, und der Physiker Dr. Peter Rösner hat dafür sogar seine wissenschaftliche Karriere an den Nagel gehängt. Wenn das Wissen A macht, muss der Mensch halt B sagen. Oder P - wie Phaeno.