Momentaufnahmen am unendlichen Wasser, 3800 Meter hoch: Ein bisschen Disneyland und rätselhafte Rituale.

Bevor er zum Eigentlichen kommt, verrät der Schamane von Huatajata noch kurz das Wichtige: 2:1 führt Brasilien im Länderspiel gegen Bolivien, und man ahnt, dass der Mann namens Benjamin jetzt viel lieber vor dem Fernseher in der Hotellobby mitfiebern würde, als seine Künste vorzuführen. Doch pflichtbewusst beschwört der Heiler die Götter, kippt ein Gläschen Schnaps ins Feuer und wäre jetzt bereit, die Coca-Blätter zu werfen, um daraus den Besuchern Antworten auf ihre persönlichsten Fragen zu lesen.

Das Feuer lodert im Halbdunkel des Museums des Inca Utama Hotels, hinter dem Mann in Poncho und bunter Ohrklappenmütze stapeln sich Kräuterbündel, Fläschchen und kleine getrocknete Reptilien. Benjamin ist der Heiler des Dorfes und kommt auf Anforderung ins Hotel. Er versichert aber, Erkrankte, bei denen er nicht weiterkäme, stets an reguläre Ärzte zu verweisen.

Die Heilkunst hat eine lange Tradition in Bolivien, und die, die sie ausüben, die Kallawayas, genießen immer noch großen Einfluss. Benjamin habe mit seinen Diagnosen auch bei Touristen oft genau richtig gelegen, meint Reiseführer Rodrigo.

Trotzdem sieht er die Tätigkeit der Heiler kritisch: Erst vor wenigen Wochen sei ein junger Mann in der Gegend schwer erkrankt und binnen drei Wochen gestorben. Der "Kari-Kari", ein böser Geist, sauge sein Fett aus, habe der dortige Kallawaya behauptet, und im Krankenhaus sterbe der Patient erst recht. "Armes Bolivien - das steht auch für dummes Bolivien", sagt der 40-Jährige, der in Deutschland aufgewachsen ist, bitter. Und so klar wie nur an wenigen Orten spürt der Besucher hier, dass ihm das Fremde fremd bleibt und wie sehr jedes Gefühl der Annäherung doch nur Illusion ist.

Der Titicacasee in 3800 Metern Höhe ist 13-mal so groß wie der Bodensee. Das "Andenmeer", das sich Peru und Bolivien teilen, gilt als Keimzelle des Inkareichs. Götterglaube, rätselhafte Rituale und Mythen sind hier immer noch zuhause. Und wer nach einer eiskalten Nacht morgens am nebligen Ufer fröstelnd darauf wartet, dass die Sonne aus dem Grau bricht, der versteht, warum gerade der Sonnengott als Lebensspender und oberster aller Götter verehrt wurde und wird.

Bevor das Tragflügelboot zu den Heiligen Inseln im See ablegt, lädt Demetrio Limachi zu einem Besuch in sein "Ra II-Haus" ein. Demetrio, heute 62, und seine beiden Brüder haben einst die berühmten Schilfboote gebaut, mit denen der norwegische Forscher Thor Heyerdahl Meere überquerte. Am 11. Juli 2007 wollte der Deutsche Dominique Görlitz von New York aus mit der "Abora III" über den Atlantik segeln. Nach 56 Tagen auf See musste er aufgeben. 12 Männer hatten hier vor der Tür zwei Monate lang an der "Abora III" gebaut, darunter auch Limachi-Neffe Fermin.

Demetrio erzählt anhand von Landkarten, Fotos und Modellen der verschiedenen Boote routiniert von den sechs internationalen Expeditionen, an denen er mitgearbeitet hat. Außerdem, sagt der Vielgereiste höchst abgeklärt, fühle er sich durchaus wohl als lebendes Ausstellungsstück des "Pueblo Andino" zwischen Lehmhütten, Alpakas und der Hutmacherwerkstatt. Und zum Abschied schwingt er sich noch schnell gekonnt auf einen Nachbau des Schilf-Schiffes "Ra II" - für das ganz besondere Foto.

Crillon-Tours, die Firma, die Hotel und Museen betreibt, hat gewissermaßen das ganze folkloristische Inventar des Altiplano, der Hochebene, die der See einst bedeckte, versammelt und zu einer bunten, leicht konsumierbaren Version des Landes und seiner Leute hergerichtet. Mehr noch: Ein paar Kilometer weiter, im See, hat die Agentur vor drei Jahren ein nagelneues Uru-Dorf bauen lassen. Die Uru-Völker wohnten einst auf Schilfinseln im See, weil sie dort vor Verfolgung sicher waren. Ihre Nachfolger, um die 2000 Menschen, hausen heute auf 30 bis 40 Inseln in der Bucht von Puno auf der peruanischen Seite, und eben auch vor Huatajata. Lorenzo Mendoza, der Chef, begrüßt die Gäste dort auf Uru und Spanisch. Sechs Familien leben derzeit auf der etwa eineinhalb Meter dicken Schilfunterlage, die an Pflöcken im Wasser vertäut ist. Zwei bis drei Wochen lang flechten sie Mini-Boote und Lamas als Souvenirs, bessern schadhafte Stellen im Boden aus und führen Touristen auf dem 20 mal 30 Meter großen Eiland herum: Hier ein neues Gewächshaus, in dem Tomaten und Rote Bete wachsen, im Topf ein paar Fische, und so funktioniert das Ligwi, eine Wurfschlinge, mit der man Enten fängt. Das alles ist so echt wie Disneyland, aber die Bewohner auf Zeit sind hoch zufrieden: Bald kommt die Ablösung, dann geht es wieder zurück ins Heimatdorf am Desaguadero-Fluss. Arthritis, an der ihre Vorfahren auf den schwimmenden Inseln ob der Feuchtigkeit litten, bleibt ihnen erspart.

Das ist die eine, die touristische Wirklichkeit. Und dann, draußen auf dem See, ist da plötzlich die andere: 20 bis 25 Boote liegen in Reihe, die Segel gerefft, Mast an Mast. Ganz langsam gleiten sie zu einem Rund, in dem das Netz zu Wasser gelassen wird. Die Fischer von Suriqui, Männer wie Frauen, arbeiten, wie sie es seit Jahrhunderten gewohnt sind. Im klaren Wasser spiegeln sich die Boote, der See ist gesäumt von einer erdbraunen Kruste, und dahinter erheben sich die schneebedeckten Gipfel der Königskordilleren - in diesem Augenblick ist Bolivien wunderschön und ganz bei sich selbst.

Der mystische Ursprung des Inkareiches aber liegt auf der Isla del Sol, der zehn Kilometer langen und bis zu vier Kilometer breiten Sonneninsel mit ihren vielen Buchten. Wenn die Fähren in Yumani anlegen, wandert eine Prozession von Rucksacktouristen den steilen Weg ins Dorf hinauf. Die Inselbewohner vom Volk der Aymara-Indianer sehen den Zug mit Wohlwollen, zählen ihre Bolivares und denken über den nächsten Ausbau nach.

Denn es sind Gründerjahre auf der Sonneninsel: Hier entsteht ein neues Restaurant mit Glasveranda, dort hat sich ein kleiner Laden binnen zwei Jahren in eine respektable Lodge verwandelt. Das erste Internet-Cafe hat eben eröffnet, und die Schule verfügt jetzt über einen Computerraum, gestiftet vom US-Schauspieler Jim Carey, als er letztes Jahr hier Urlaub machte.

So weit, so neu. Dazwischen aber transportieren Esel Getreidesäcke und Behälter mit lebenden Forellen. Autos gibt es auf der Sonneninsel so wenig wie Straßen, Polizisten oder Priester. Kinder hüten Ziegen und fragen schon mal nach Bonbons. Alte Frauen mit Zopf, Bowlerhut und gestrickten Leggins quetschen mit bloßen Füßen Kartoffeln aus, die im Wasser gelegen haben und dann getrocknet werden - bis zu zehn Jahren halten die so behandelten "Chunos".

Im Norden der Insel liegen die Heiligtümer: In den Ruinen der Labyrinthstadt Chincana nächtigten die Pilger. Vor dem Fels Titicala, in dem - mit etwas gutem Willen - ein Puma zu erkennen ist, stieg die Sonne endlich wieder zum Himmel, nachdem sie jahrelang auf der Erde versteckt gewesen war. Und auf der Steinplatte, die auf drei Felspfosten ruht, wurden ihr Jungfrauen geopfert - vielleicht an so einem friedlichen Morgen wie diesem.

Der Weg zurück führt nach Challapampa. Am Hafen haben sich Dutzende Männer und Frauen versammelt, rühren Mörtel und setzen Steine für ein Pflaster. Arbeit für die Gemeinschaft erledigen nach wie vor alle zusammen, wie es bei den Aymara jahrhundertelang üblich war. Trotz Handys und Außenbordmotoren - es ist eine archaische Welt am Titicacasee, in die die Menschen vieles aus der Vergangenheit herüber gerettet haben: Beneidenswertes wie Fragwürdiges.