Nach den Lehren des Gesundheitspfarrers wird nun allein in Deutschland an 60 Orten behandelt. Die Bewegung ist in 27 Ländern aktiv.

Die Tür meines Hotelzimmers fliegt auf. Jemand zerrt an meiner Steppdecke. Im Halbschlaf sehe ich eine Frau in Weiß neben meinem Bett, die Tücher in der Hand hält. Kneipp-Bademeisterin Marianne Weidenspointner will mir um sechs Uhr morgens einen kalten Wadenwickel anlegen. Worauf habe ich mich da eingelassen? Wieso habe ich mich nicht für den heißen Heusack entschieden? Mein verspannter Nacken hätte es mir sicherlich gedankt.

Mit flinken Fingern wickelt die Bademeisterin ein feuchtkaltes Leinentuch um meine Waden, darüber ein Baumwolltuch, schließlich ein drittes Tuch aus Wolle. "In einer Stunde bin ich wieder bei Ihnen und nehme die Wickel ab. Bis dahin werden Sie entspannt schlafen", sagt sie und rauscht aus dem Raum zum nächsten Ahnungslosen im Nachbarzimmer.

Ich liege auf dem Rücken - nicht gerade die beste Einschlafposition. Ich möchte mich umdrehen, aber dann würden die Wickel verrutschen. Also abwarten, was passiert. Und es geschieht tatsächlich etwas. Nach wenigen Minuten verspüre ich ein leichtes Kribbeln bis zu den Knien, das langsam in die Oberschenkel ausstrahlt. Mir wird wohlig warm, und ich schlafe tatsächlich in der ungewohnten Rückenlage ein. Nachdem Marianne meine Beine wieder ausgepackt hat, starte ich in meinen ersten Tag im Kneippkurort Bad Wörishofen.

Die Wasserheilkunde, zu der Wickel, Güsse, Bäder und Packungen zählen, gehört zur Fünf-Säulen-Therapie des 1897 in Bad Wörishofen gestorbenen Pfarrers Sebastian Kneipp. Die vier weiteren Elemente sind die Pflanzenheilkunde, die Ernährung, die Bewegung und die Lebensordnung. 1821 wird Sebastian Kneipp in Stephansried bei Ottobeuren als Sohn eines Landwebers geboren. Er wächst in ärmlichen Verhältnissen auf. Sein Wunsch, Theologie zu studieren, wird immer stärker. Mit 21 Jahren findet er schließlich einen Gönner, der ihm den Besuch des Gymnasiums ermöglicht. 1848 kann er endlich sein Studium beginnen. Als er während dieser Zeit an Lungentuberkulose erkrankt, kuriert er sich selbst mit der Heilkraft des Wassers.

1855 kommt Kneipp nach Wörishofen und beginnt, kranke Menschen zu beraten und mit Wasseranwendungen zu heilen. Da er keine medizinische Ausbildung hat, wird er von Medizinern und Apothekern ermahnt und verklagt. Kneipp lässt sich nicht beeindrucken. 1886 erscheint sein erstes Buch "Meine Wasserkur", drei Jahre später sein zweites "So sollt Ihr leben". Bis zu seinem Tod unternimmt er über 30 Vortragsreisen durch Europa. Heute gibt es in Deutschland 60 Kneippheilbäder und Kneippkurorte. Die Kneippbewegung ist in 27 Ländern organisiert.

Nach dem Frühstück beginnt die nächste "Therapiestunde". Per Fahrrad erkunde ich mit Radwanderführer Michael Vögele Bad Wörishofen und seine Umgebung. Die Landschaft ist eben bis leicht hügelig. Erst weit im Hintergrund lassen sich im Dunst die Alpen erahnen. "Es gibt über 250 Kilometer Radwege und wenig befahrene Straßen um Bad Wörishofen", berichtet Vögele: "Radwandern hat sich neben Walken und Golfen zur beliebten Bewegungstherapie entwickelt." Nicht weiß getünchte Kurkliniken säumen die Straßen, sondern schmucke Hotels, Gasthäuser und Pensionen. Die Balkonkästen sind prall gefüllt mit Hängegeranien, wie es sich fürs Allgäu gehört. "Unsere Stadt hat 160 Gastbetriebe, die Kneipp-Anwendungen anbieten, von der kleinen Pension bis zum Fünf-Sterne-Hotel", sagt Vögele. Viele Hotels offerieren neben den klassischen Anwendungen wie Wassertreten, Güssen und Wickeln inzwischen auch Wellness- und Beautyprogramme. Die Massagen lassen keinen Wunsch offen. Von der klassischen Rücken- über die tibetische Honigmassage oder Shiatsu bis zur hawaiianischen Tempelmassage ist für jeden verspannten Körper etwas dabei.

Über Feldwege verlassen wir den Ort und kommen zum ersten Wassertretbecken mitten in einem der Bäche, die die Stadt durch- und umfließen. Da Wassertreten gegen Einschlafstörungen helfen soll, verschiebe ich diesen Teil auf den Abend. Wir fahren weiter zum "Ort der Berührung", dem Barfußweg. "Barfußgehen dient der Abhärtung, propagierte Kneipp", erläutert Michael Vögele. Auf dem 80 Meter langen Parcours sollen sich die Füße mit neun unterschiedlichen Bodenbelägen vertraut machen. Wir radeln zurück in die Innenstadt, Richtung Kurpark, zum 1896 von Sebastian Kneipp gegründeten Kneippianum. Im Frühjahr 2007 eröffnete es nach mehrmonatigem Umbau als "Kneipp-SPA"-Hotel. Hier gönne ich mir den viel gepriesenen "Schönheitsgesichtsguss", der die Haut beleben und straffen soll. "Ich sehe ja zehn Jahre jünger aus", juchzt eine Dame neben mir. Ein Blick in den Spiegel. Ich entdecke bei mir keinen Unterschied. Offenbar gibt es da (noch) nichts zu glätten. Oder nicht jede Anwendung zeigt gleich beim ersten Mal Wirkung. Die begeisterte Dame ist sicher nicht erst seit gestern hier.

Egal. Ich begebe mich auf eine kleine Entdeckungstour in den Kurpark, in den Duftgarten, das Rosarium und den Heilkräutergarten, wo Zierpflanzen und Kräuter verschiedener Epochen - vom Mittelalter bis zur Gegenwart - ihre Aromen versprühen. Zwischen hohen Bäumen blinkt wieder ein Wassertretbecken. Drei Damen drehen ihre Runden im Storchengang im zwölf Grad kalten Wasser. "Die Füße bei jedem Schritt aus dem Wasser heben", steht auf dem blauen Schild neben der Anlage: "Nur so lange im Wasser bleiben, bis ein starker Kältereiz in den Beinen eintritt. Nicht abtrocknen, Wasser abstreifen und auf der Tretwiese wieder warmlaufen." Ich bevorzuge die "Tasse Kaffee des Kneippianers", das belebende Armbad. 30 Sekunden lang bleiben die Arme ins kalte Wasser getaucht.

Das macht fit genug, um auch dem Sebastian-Kneipp-Museum im Dominikanerinnen-Kloster noch einen Besuch abzustatten. Es zeigt Stationen aus dem Leben des "Wasserdoktors" sowie Möbel aus seinem Schlaf- und Wohnbereich. Auch eine Nachbildung der Gießkanne, die Sebastian Kneipp für seine Güsse verwendete, ist zu sehen.

Der nächste Tag beginnt mit einem stimulierenden Armguss. Bademeisterin Marianne erwartet mich schon. Nicht wie zu Kneipps Zeiten mit einem Strahl aus der Gießkanne, sondern mit einem dicken Schlauch. Zunächst massiert sie meine Arme mit warmem Wasser. "Warm, kalt, warm und zum Schluss noch einmal kalt", meint Marianne: "Damit sich die Poren schließen."

Da die Wettervorhersage für heute nicht die beste ist, entschließe ich mich zum Besuch der vor drei Jahren am Stadtrand gebauten Südsee-Therme. Unter einer 18 Meter hohen Glaskuppel und Palmwedeln findet man Ruhe und Entspannung in diversen Schwimmbecken, einem Sole-, einem Jod-, einem Selen-, einem Schwefelbecken, in Themensaunen oder beim Masseur. Nur sonnabends ist die Therme auch für Kinder unter 16 Jahren geöffnet. Sonst kann der Nachwuchs sich im angeschlossenen Familienbad "Blue Fun" vergnügen.

Und auch in der Therme kommt Kneipp zu Ehren. Es gibt einen Barfußparcours unter Wasser und - natürlich - ein Tretbecken. Also stakse ich zum Abschluss drei Runden durchs eisige Wasser und werde später wieder wunderbar schlafen - bis Marianne mit den feuchtkalten Wickeln an meinem Bett erscheint. Ach nein, morgen früh ist ja der heiße Heusack dran . . .