Mit den zahlreichen Museen, Theatern, Kunstgalerien, Cafés und Restaurants kehrt die Lebendigkeit in die historische Metropole zurück.

Eine Handvoll alter Männer drischt Karten, am Nachbartisch ist man in eine Partie Schach vertieft. Auf Bänken genießen Müßiggänger den Feierabend, während die Spatzen ihren Geschäften nachgehen: Szenen aus dem Zentrum von Szczecin, das Deutschen leichter als Stettin von der Zunge geht.

Der runde Plac Grunwaldzki ist Ort des Verweilens und gleichzeitig Verkehrsknotenpunkt: Acht Straßen laufen auf ihn zu, fünf Straßenbahnlinien queren ihn. Diese Lebendigkeit mögen sich die preußischen Stadtplaner gewünscht haben, als sie den Kreisverkehr Ende des 19. Jahrhunderts anlegten. Nach dem Vorbild der Sternplätze von Paris sollte der Kaiser-Wilhelm-Platz Flair an die Odermündung bringen. Immerhin hatte Stettin hinter Berlin und Hamburg die drittgrößte Fläche im Deutschen Reich. Die Stadt war auf dem besten Weg, sich für Größeres herauszuputzen. Dann kam der Zweite Weltkrieg.

1945 wandelte sich Stettin zu Szczecin und Kaiser Wilhelm wurde vom Stadtplan verbannt. Geblieben sind dem Platz viele Häuser der Gründerzeit. Mit ihren Giebeltürmchen und den schmiedeeisernen Balkongittern gaukeln sie noch immer eine deutsche Stadt vor. Doch der Lack ist ab. Lediglich an der Ecke der Ulica Lubomira ist ein Haus in Ockergelb herausgeputzt. Mit leicht zugekniffenen Augen und gutem Willen kann man es sich sogar in Paris vorstellen. Vor nunmehr fast 20 Jahren ist die Marktwirtschaft nach Polen zurückgekehrt und zeigt sich heute in all ihren Facetten. Auf dem Weg vom Hauptbahnhof in die Altstadt kann sich jeder leicht mit "Hamburgery" oder "Kebaby" versorgen und es sich unter Coca-Cola-Sonnenschirmen schmecken lassen. Die Globalisierung hat auch hier nicht haltgemacht: Auf Plakaten preist eine deutsche Kette für Unterhaltungselektronik Digitalkameras mit vier Millionen "pikseli" an.

Am Eingang der Jakobikirche zeigt sich, dass die Stettiner der Gegenwart auch schon einmal ein Schnippchen schlagen: Die Eintrittskarte trägt den Aufdruck "1 Euro", obwohl das Land wohl frühestens 2011 der Währungsunion beitreten wird. 1944 wurde die größte Kirche der Stadt zerstört, 1972 wieder aufgebaut - und wer meint, dass man Polens Befindlichkeit am besten in einer katholischen Kirche begegnen könne, findet sich hier bestätigt. In der Apsis hinter dem Altar beginnt eine Reihe von Kapellen, die die Erinnerung an Traumata und Triumphe der Nation wach halten. Die "Sibirische Kapelle" belehrt, dass 1940 viele Polen in den Osten verbannt worden sind. Einige Schritte weiter flackern Kerzen vor einem Transparent. Auf Weiß und Rot, den Nationalfarben, mahnt eine Schrift, den gescheiterten Warschauer Aufstand von 1944 nicht zu vergessen. Eine Kapelle ist Maksymilian Kolbe gewidmet, der sich für einen Mithäftling in Auschwitz geopfert hat. Deutsche Besucher spüren hier in der ehemals deutschen Stadt den deutschen Beigeschmack besonders. Erlösend wirkt dagegen die Kapelle für die Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc, zu deren ersten Aktionszentren Stettin gehörte. Und immer wieder Johannes Paul II. Er war es, der die Stadt im Juni 1987 besuchte und somit Solidarnosc stärkte. Er war es, der die Jakobikirche 1992 zur Basilika des Erzbischofs ernannte. Er war es, der im selben Jahr Maksymilian Kolbe heilig sprach. Gleich drei Plaketten würdigen den 2005 verstorbenen Papst.

Die Altstädte von Danzig, Breslau und Warschau sind berühmt dafür, dass sie heute wieder so aussehen wie vor den Zerstörungen des letzten Kriegs. Nicht so die von Stettin. Gleich 1945 sprachen die Planer der Altstadt den Denkmalcharakter ab. Außerdem täte ein modernes Zentrum not. So wurden nur wenige Bauwerke wieder errichtet, allen voran das Schloss der pommerschen Herzöge. Wer seinen kleinen Hof betritt, merkt nicht auf Anhieb, dass er sich eigentlich in einer Kulisse bewegt. Alles passt zusammen: Die Mauersteine scheinen seit Jahrhunderten an ihrem Platz zu sein. Im Sommer wartet eine Bühne auf ihren Einsatz am Abend, und unter einer Platane und einer Linde hoffen Stühle eines Cafes auf Gäste.

Eigentlich könnte der Blick von der Schlossterrasse auf die Oder fallen. Stattdessen glotzen leere Fensterhöhlen herüber. Die Häuserzeile in der Panienska ist vielleicht in einigen Jahren eine bevorzugte Wohnadresse. Vorerst ruhen die Arbeiten an den Rohbauten, die meisten stehen zum Verkauf. An einer bonbontürkisfarbenen Fassade die Gedenktafel in polnischer und deutscher Sprache: "Hier wohnte Alfred Döblin, 1878-1957, geb. in Stettin, Am Bollwerk 37". Die Nachbarstraßen säumen Wohnblöcke, denen nur Idealisten "sozialistischen Charme" bescheinigen. Als 70 Prozent der Stadt in Trümmern lagen, mussten eben in kurzer Zeit möglichst viele Wohnungen entstehen.

Die Altstadt schreit danach, wieder ein geschlossenes Ensemble zu werden. Das Alte Rathaus klemmt zwischen zwei Plätzen. Die Fassaden am Rynek Nowy, dem Neumarkt, sind so frisch wie die Unternehmen, die sich dort angesiedelt haben. Sie heißen Westgroup, Impex oder Millenium - und widmen sich der Werbung, dem Computer oder Krediten. Auf dem Rynek Sienny, dem Heumarkt, blenden zwei Häuserfronten in blau und rot; so muss es wohl im 18. Jahrhundert ausgesehen haben. Das Cafe "Kanclerz", das "Haga Pannekoekenrestaurant" und das "La Passion du Vin" laden zur Rast.

Nach Norden riegelt die Trasa Zamkowa, die Schlossstrasse, die Altstadt ab. 1975 wurde sie so großzügig angelegt, dass der Verkehr auf ihr wohl nie zum Stillstand kommt. Jenseits dieses Tiefschlags des Städtebaus ein letzter Höhepunkt für die Besucher: Waly Chrobrego, die Hakenterrasse. Auf ihren 500 Metern Länge treffen sich Pärchen zum Knutschen. Bänke mit Blick auf den Fluss laden zum Pausieren ein. Im Rücken der ermüdeten Touristen türmt sich Architektur, die von 1902 bis 1921 errichtet worden ist und von den Bomben des Zweiten Weltkriegs verschont blieb. In der Mitte leuchtet das sandgestrahlte Meeresmuseum. Von dort führt eine Freitreppe hinunter zur Oder, wo die "Peene Queen" und die "Odra Queen" zur Fluss- oder Hafenrundfahrt locken.

Wer die Tour am Ende des Tages nicht mehr schafft, weiß, worauf er sich bei seinem zweiten Besuch in Stettin freuen kann.