Mutige können die Kraft der fünffachen Erdbeschleunigung hier einmal am eigenen Körper erleben.

Die nächste Minute dürfte die schlimmste meines Lebens werden. Der Start wird noch harmlos, aber dann kommt die S-Kombination, der Bob wird Fahrt aufnehmen, 50, 60, 70 Stundenkilometer. In der langen Gerade wird das Tempo weiter steigen, 80, 90, 100 Stundenkilometer. Nun der Kreisel, mein Körper wird gestaucht werden wie in einer Presse. Hiernach die berüchtigte Anlieger-Kurve, das Blut wird mir aus dem Kopf in den Rumpf schießen. Anschließend die Seekurve, jetzt wird der Bob seine Höchstgeschwindigkeit erreichen, gute 120 Stundenkilometer. Es folgt die Echowand, an der ich wegen des Anpressdrucks statt 68 fast 350 Kilo wiegen werde. Zum Glück kommt dann nur noch die Zielkurve. Und die schlimmste Minute meines Lebens wird vorbei sein.

Ein paar Wochen zurück: Ob ich nicht Lust hätte, in einem Bob zu fahren, werde ich gefragt. Am Königssee, in einem richtigen Rennbob auf einer richtigen Rennbobbahn. Eigentlich habe ich keine Lust. Ich hasse Achterbahnen, und eine Bobbahn ist nichts anderes als eine Achterbahn zum Quadrat. Andererseits habe ich noch weniger Lust einzuräumen, dass ich wohl an einer Achterbahn-Phobie leide. Ich sage also, ich hätte Lust. Und zwar große.

Der Königssee ist im Winter so unverschämt schön, dass einem kitschig zumute würde, hätte man nicht die schlimmste Minute seines Lebens vor sich. Der postkartengrüne See ist umgeben von weißen Postkartenbergen, und manchmal fegt der Wind durch die Tannen, dass von den Ästen ein paar Schneeflocken herabrieseln, die in der Sonne aufleuchten. Ich bin also mitten im Paradies. Aber wie es im Paradies halt manchmal so geht: Die Schlange ist auch schon da. 1240 Meter ist sie lang und aus purem Eis. 13-mal krümmt sie sich, wobei die einzelnen Krümmungen nicht als schlichte Kurven in Erscheinung treten, vielmehr sind es überhängende Wände, bis zu 110 Grad steil, was nichts anderes bedeutet, als dass sich mein Hintern in den Kurven oberhalb meines Kopfes befinden wird. Die Bobbahn am Königssee wurde 1968 gebaut und ist die älteste künstliche Eisrinne überhaupt. Welt- und Europameisterschaften wurden hier ausgetragen und unzählige deutsche Meisterschaften. Weil die Schlange zugleich Trainingsbahn ist, wird sie von Anfang Oktober bis Anfang März betrieben, was wegen des aufwendigen Kühlsystems eine teure Angelegenheit ist. 8000 Euro kostet der Unterhalt pro Tag.

Um die Finanzierung dauerhaft zu sichern, kamen die Bahnbetreiber vor sechs Jahren auf die Idee, Touristen durch den Eiskanal zu jagen. Das "Rennbob-Taxi" war geboren. Das Geschäft läuft. 85 Euro kostet die Mitfahrgelegenheit. Das Rennbob-Taxi fährt an ungefähr 50 Tagen der Saison, im Schnitt melden sich für so einen Tag rund 60 Interessenten an. Doch nicht nur am Königssee fährt ein Touristenbob, auch in Winterberg (Sauerland) und im sächsischen Altenberg.

Am Fuß der Bahn muss ich zunächst ins Anmeldehäuschen. Dort bestätige ich mit meiner Unterschrift: Ich bin über 18 Jahre alt, nüchtern und neige nicht zu Osteoporose. Und meiner Bandscheibe geht es gut, ebenso wie meiner Wirbelsäule, meinem Herz und meinem Kreislauf. Schließlich bin ich mir bewusst, dass der Deutsche Bob- und Schlittenverband, die Organisatoren und die Piloten für einen eventuellen Schaden nicht in Haftung genommen werden können. Zusammengefasst: Ich bestätige, dass ich topfit bin und bereit, einen rechtsfreien Raum zu betreten. Nach kurzem Fußmarsch erreiche ich den Start in 700 Metern Höhe. Vor der Eisschlange hat sich eine Menschenschlange gebildet genauer: eine Männerschlange. Einigen der Männer sieht man ihre Angst an. Andere witzeln, aber vermutlich haben die, die witzeln, noch viel mehr Angst. Neben der Männerschlange gibt es eine weitere Reihe: eine Schlange von Frauen, die Fotoapparate oder Videokameras oder gleich beides bei sich haben. Die Damen sind die Ehefrauen, Verlobten oder Freundinnen der Männer und die meisten von ihnen haben ihrem Ehemann, Verlobten oder Freund die Rennbob-Taxi-Fahrt zu Weihnachten geschenkt.

Sechs Piloten gibt es insgesamt fürs Rennbob-Taxi: den Hartl, den Sepp, den Andreas, den Eric, den Hans und den Karl. Heute sind da: der Andreas, der Eric und der Sepp. Der Andreas schaut arg draufgängerisch aus mit seinen langen, verwuselten Haaren und der Eric wirkt vor allem arg jung mit seinen glatten Gesichtszügen. Der Sepp hingegen mit seinem gemütlichen Schnauzbart macht den Eindruck, als hätte er Familie, und privat fährt er bestimmt einen Volvo. Ich versuche, mich so in die Wartereihe zu stellen, dass ich zu Sepp in den Bob komme. Stattdessen erwische ich Andreas, den Draufgänger.

Merke: Ein Bob ist kein Auto. Man kann einen Bob also nicht mit besonderer Vorsicht fahren. Man kann einen Bob auch nicht bremsen während der Fahrt. Man kann ihn nur laufen lassen. Im Grunde ist Bobfahren eine berechenbare Sportart: Entweder der Pilot macht keinen großen Fehler, dann kommt der Bob aufrecht unten an. Oder der Pilot macht einen großen Fehler, dann kippt der Bob um, was sehr gefährlich werden kann. Auch das Rennbob-Taxi ist vor zwei Jahren schon mal umgekippt, die Passagiere kamen aber glimpflich davon.

"Du setzt Dich ganz hinten hin, da wird es richtig ungemütlich", sagt Andreas zu mir. Er lacht, während er das sagt, aber ein Scherz ist es nicht, der hintere Platz ist tatsächlich der brutalste. Wer hier sitzt, bekommt die kräftigsten Schläge ab. Zu widersprechen wage ich trotzdem nicht. Ich stülpe mir also den Helm über den Kopf und setze mich auf den hinteren Platz, wobei man von einem Platz im eigentlichen Sinne gar nicht sprechen kann. Denn ich sitze auf dem Metallboden des Bobs, halte mich an zwei Metallgriffen fest, die an der Innenseite der Bobwand angebracht sind, und lehne mit dem Rücken an einer ungepolsterten Metallstange. Den Platz vor mir bekommt Thomas Mühlleitner, Berufsoberschüler aus München, die Fahrt ist ein Weihnachtsgeschenk von seiner Freundin. Davor sitzt Thomas Georgi, Maschinenbauingenieur aus Mittelbach. Und davor, an den Lenkseilen, sitzt Andreas Stanggassinger, früherer deutscher Juniorenmeister.

Der einzige Unterschied zwischen uns vieren und einem Profi-Quartett ist: Die Profis schieben den Bob selber an und springen dann hinein, wir dagegen werden angeschoben. Die Fahrt beginnt - und es wird wenig später tatsächlich die schlimmste Minute meines Lebens. Ich fühle mich wie ein Stück Holz in einer Schraubzwinge und gleichzeitig wie eine Socke im Schleudergang. Meine Beine, eingeklemmt zwischen der Bobwand und dem Vordermann, scheinen abzusterben, dafür schlägt mein Oberkörper hin und her, und mein Rücken prallt wieder und wieder gegen die ungepolsterte Metalllehne. Andreas hat uns geraten: "Gut festhalten. Und wenn der Bob kippt, noch besser festhalten."

Krampfartig umfassen meine Hände die Metallgriffe. Wie lange sind wir schon unterwegs? 20 Sekunden? Oder erst 10? Mein Magen rebelliert, aber ich lasse ihn nicht gewähren. Echowand! 5g - also die fünffache Erdbeschleunigung, eine Belastung, wie sie der Pilot eines Eurofighters aushalten muss. Dann endlich die Zielkurve und - vorbei. Ganz richtig: Es war die schlimmste Minute meines Lebens.