Österreich: Spannende Touren rund um das Bergsteigerdorf Vent. Auf gut markierten Routen den Spuren der berühmten Gletschermumie “Ötzi“ folgen und dort einkehren, wo die “Geierwally“ verfilmt wurde.

Einen halben Müllsack voller geschnitzter Hölzer und Lederschnürle habe er zu Tal getragen und der Gendarmerie übergeben, sagt Luis Pirpamer. Das wäre im Prinzip nichts Besonderes, wenn es sich nicht um das Zubehör des ältesten Älplers gehandelt hätte, den er je zu Gesicht bekam - nämlich jenes Mannes aus dem Eis, den man später "Ötzi" nannte.

Luis aus Vent ist als Bergführer Legende, der gesamte Ort ist Legende - nur das, was der Luis erzählt, das ist keine Legende. Vor fünfzehn Jahren hat sein Sohn Markus, der auf dem Similaun-Gletscher die Ferner-Hütte betreibt, den tiefgefrorenen Migranten gefunden. Am nächsten Tag haben Vater und Sohn ihn dann gemeinsam mit dem Eispickel herausgehackt - recht unsanft, zugegebenermaßen. Aber wer konnte schon ahnen, um welch kostbares Gut es sich da handelte?

Selbst als Reinhold Messner den "Ötzi" auf etwa 500 Jahre schätzte, war Luis noch skeptisch und meinte: "Du wärest nicht der Messner, würdest du nicht immer ein bisschen übertreiben." Unrecht hatten schließlich beide, denn inzwischen weiß man, dass der Gletschermann etwa 5300 Jahre alt ist.

Auf wundersame Weise hat ausgerechnet die Mumie so manches zum Leben erweckt. An der Fundstelle wurde ein Obelisk errichtet, und der Weg von Vent durch das Niedertal zum Similaun-Ferner ist seitdem mit Hinweistafeln zur spannenden Geschichte des Tals gespickt. Wie am "Hohlen Stein", dem Rastplatz steinzeitlicher Wildbeuter, oder beim archaischen Jagdlager am Eingang zum Rofental.

In Vent endet die Straße, es beginnen die Wege. Unzählige Höhenpfade ziehen sich durch das ausgewiesene Ruhegebiet im Naturpark Ötztal. Alle sind bestens markiert und nicht nur für passionierte Bergsteiger, sondern auch für Wanderer mittlerer Kondition geeignet. Eine Sesselbahn schwebt direkt vom Ort zur Stableinalm auf 2356 Metern als Ausgangspunkt für herrliche Touren. Sie führen auch zu bewirtschafteten Hütten knapp hinter der italienischen Grenze, wie der "Schönen Aussicht", die mit exzellenter Küche überrascht.

Erstaunlich viele junge Leute sind unterwegs, denn Wandern liegt wieder im Trend, auch wenn es jetzt Trekking genannt wird. Wir begegnen ihnen auf dem hochalpinen Panoramaweg, der vom Fuße des Tiefenbach-Ferners bei Sölden in 2800 Meter Höhe nach Vent auf 1900 Meter führt. Er beginnt mit dem Winter im Rücken und dem Herbst im Blick. Hinter uns die Farbe Weiß, soweit das Auge reicht: das Eis des Gletschers. Vor uns das Grün der Almwiesen, durchsetzt von kräftig rosa Alpenrosen. Murmeltiere pfeifen Warnungen vor kreisenden Steinadlern, und bei etwas Glück springt ein Steinbock über die schroffen Felsen. In knapp vier Stunden überwinden wir 900 Höhenmeter. Wohl kaum eine Wanderroute wird von so vielen Attraktionen gesäumt wie dieser gut zehn Kilometer lange Weg, der einen spektakulären Blick auf die Ötztaler und die Stubaier Alpen freigibt. Er ist Teil der insgesamt 5000 Kilometer langen Via Alpina, die auf fünf Routen von Triest bis nach Monaco führt. Ihr Ziel ist die nachhaltige Entwicklung im Alpenraum. Luis deutet auf die vielen Flechten, die sich über die Felsen breiten, als Beweis für die saubere Luft bar jeglicher Schadstoffe.

Natürlich ist der Bergführer ein vehementer Gegner des geplanten Stausees bei Vent. Schließlich hat er den Fremdenverkehr hier maßgeblich mitentwickelt und dafür gesorgt, dass der Bergort ganz hinten im Ötztal als Beispiel für sanften Tourismus gilt. "Der Stausee bedeutet einen verheerenden Eingriff in unsere sensible Natur", empört sich das Tiroler Urgestein.

Bereits 1241 wurde Vent im Ventertal, zu Füßen von Tirols höchstem Berg, der 3774 Meter hohen Wildspitze, urkundlich erwähnt und begeisterte im 18. Jahrhundert die ersten Touristen mit seinen glitzernden Gletscherseen. Hier werden auch die robusten Haflinger gezüchtet. Die streichelnahe Begegnung mit den halbhohen Pferden ist für Stadtkinder ein aufregendes Erlebnis - heile Welt am Ende des Tals. Und wenn man ein Auge zukneift und nur die weiße Pfarrkirche zum heiligen Jakobus anpeilt, schafft man es sogar, den störenden Mobilfunkmast zu ignorieren, der mitten im Ort aufragt. Ein schmuckes Dorf mit hübschen Gasthöfen und Hotels wie dem Vier-Sterne-Haus "Post", das sich bereits seit dem 15. Jahrhundert im Besitz der Familie von Luis Pirpamer befindet.

Viel gibt es nicht zu tun in diesem 160-Seelen-Dorf, das offiziell zwar zur Gemeinde Sölden gehört, doch Ruhe und Stille statt Rummel und Szene bietet. Da schafft man es auch mal früh aufzustehen, um den Sonnenaufgang über den Dreitausendern zu beobachten. Das magische Lichtspiel zog schon 1860 Pfarrer Franz Senn aus Längenfeld im mittleren Ötztal derartig in seinen Bann, daß er Vent fortan zu seiner Wahlheimat machte. Der begeisterte Alpinist bildete Bergführer aus und veranlasste den Bau von Wegen und Schutzhütten. Durch den passionierten Gottesmann wurde Vent zur Wiege des modernen Alpintourismus und zum Geburtsort des Deutschen Alpenvereins.

Noch älter sind die Rofenhöfe auf 2014 Metern - die höchstgelegene, bewirtschaftete Siedlung der Ostalpen. Man erreicht sie in einer halben Stunde Fußweg über eine Hängebrücke. Als Anny und Bruno Klotz 1961 einen der Höfe kauften, gab es noch keine Zufahrtsstraße. Inzwischen gilt ihr Hof als beliebtes Ausflugsziel, allein schon wegen des hausgemachten Apfelstrudels. Berühmt wurden die Rofenhöfe 1940 als Drehort des Films "Die Geierwally" mit Heidemarie Hatheyer. Noch heute profitiert das Hotel "Geierwallyhof" vom alpinen Melodrama.

Als der kleine Luis mit seinen neun Geschwistern 1947 den ersten US-Jeep bestaunte, der sich über den steinigen Pfad nach Vent hinaufgequält hatte, ante er nicht, dass er einmal Kinder und Enkel dieser GIs als Bergführer durch die Ötztaler Alpen begleiten würde. Denn inzwischen kommen sie aus aller Welt in "das" Bergsteigerdorf Tirols.