Italien: Region Kalabrien gilt bei deutschen Urlaubern noch immer als Insider-Tip. Schöne Strände und mittelalterliche Orte: Die Küste rund um Capo Vaticano und Tropea gehört zu den Schätzen des Mittelmeerraumes.

Das Paradies von Luigi Passalia liegt an der äußersten Spitze des Capo Vaticano, wo zerklüftete Granitfelsen jäh in die Tiefe stürzen. Im Schatten von Pinien und wilder Vegetation ducken sich verstreut ein paar weißgekalkte Apartmenthäuser. "Sehen Sie die Felsen im Meer?" Luigi deutet auf das Wasser hinunter. "Der dort hat die Form eines ausgestreckten Löwen. Und dort - ein gewaltiges Krokodil!"

Für Luigi ist es ein magischer Ort. Vor 3000 Jahren, erzählt er, lebte an der Stelle des heutigen Leuchtturms eine Sibylle namens Manto. Sie sei die Tochter des blinden griechischen Wahrsagers Teiresias gewesen. Alle Helden der Epen Homers, auch Odysseus, seien zu diesem Orakel gekommen, um sich Gefahren vorhersagen zu lassen. "Daher kommt der Name Capo dei vaticinii", erklärt er. Auf deutsch "Kap der Prophezeiungen".

Luigi drückt uns eine Flasche Wasser in die Hand - und einen Schlüssel für die Pforte am Ende der 500 in den Fels gehauenen Stufen zur Praia 'i Focu, der allerschönsten Bucht am Kap. Sie ist nur per Boot oder über diesen privaten Treppenweg zu erreichen. An dem abgelegenen Strand, eingebettet zwischen Felsklippen und türkisfarbenem Meer, sind wir tatsächlich allein.

Später spazieren wir oben auf dem Felsenriff einen von riesigen Kakteen teilweise überdachten Panoramaweg entlang, auf der einen Seite die schroffe Steilküste, auf der anderen die weißen Grotticelle-Strände, die sich halbmondförmig an die Berghänge schmiegen. In der Ferne die Silhouette von Stromboli und die Spitze von Sizilien.

Erst seit ein paar Jahren wächst der Tourismus im südlichen Mezzogiorno - lange Zeit wegen seiner Armut, Rückständigkeit und wohl auch aus Furcht vor der Mafia gemieden. Hier, an der Stiefelspitze Italiens, ist das Capo Vaticano mit seinen Buchten und dem klaren Meer zweifellos eine der reizvollsten Regionen, mit ländlichem Hinterland an den sanften Ausläufern des Monte Poro. Es lohnt sich, die vielen kleinen Orte zu erkunden. Zum Beispiel das mittelalterliche Städtchen Nicotera, das wie ein Adlerhorst über dem Golf von Gioia thront. Die hohen Häuser und Stadtpaläste längs der gewundenen kopfsteingepflasterten Gassen lassen die Pracht und den Reichtum früherer Jahrhunderte erahnen. Doch die Fassaden sind abgeblättert, die wappengeschmückten Torbögen bröckeln. Auf den Plätzen, Märkten und in den Straßencafes geht der italienische Alltag seinen ganz normalen Gang, während rundherum die schönen alten Bauten verfallen. Autos zwängen sich ungehindert durch die engen Gassen, vorbei am normannischen Kastell und der mittelalterlichen Kathedrale. Vor dem Domplatz öffnet sich der Belvedere mit weitem Blick über den kilometerlangen Sandstrand von Nicotera Marina. Bei näherem Augenschein entpuppt sich dieser Ableger am Meer allerdings als eine der typischen tristen Feriensiedlungen, wie sie an etlichen kalabrischen Küstenabschnitten entstanden sind.

Nahe dem Capo Vaticano leuchtet auf Tuffsteinfelsen Tropea, einer der schönsten Urlaubsorte Kalabriens - nicht nur wegen seiner herrlichen Strände. In den Gassen der völlig intakten Altstadt pulsiert das Leben. Kleine Läden mit allerlei Spezialitäten laden zum Bummeln ein. Die Hauptflaniermeile, der Corso Vittorio Emanuele, endet spektakulär auf einem Balkon hoch über dem Meer.

Die Atmosphäre dieses Städtchens mit 50 Adelspalästen, zahlreichen Kirchen, Kapellen, Klöstern und einem normannischen Dom hängt mit seiner stolzen Geschichte zusammen. Herakles soll Gründer der Stadt gewesen sein. Seit dem Mittelalter bewahrte Tropea als bedeutender Adels- und Bischofssitz seine Unabhängigkeit, besaß ein eigenes Parlament und war außer dem König keinem Feudalherren untertan. Eine der Schönheiten von Tropea ist die uralte Wallfahrtskirche Santa Maria dell'Isola, weithin sichtbar auf einer felsigen Halbinsel. Wir erklimmen sie über eine steile Treppe und finden hinter der Kirche einen anmutigen mediterranen Klostergarten, wo sich das Zwitschern der Vögel mit dem Rauschen des Meeres vermischt.

Auf schmalen kurvenreichen Straßen fahren wir weiter durch die Berge hinüber zur ionischen Küste Kalabriens. Die Hänge an den nordöstlichen Ausläufern des Aspromonte sind urwaldartig bewachsen - es explodiert geradezu vor lauter Grün. Plötzlich taucht ein hoher schroffer Felsen auf: Kaum zu glauben, daß dort der Ort Gerace liegt.

Als die Bewohner von Lokroi Epizephyrioi Ende des 8. Jahrhunderts aus Furcht vor Piraten in die Berge flohen, soll ihnen der Legende nach ein vorausfliegender Sperber den Weg zu diesem Felsmassiv gewiesen haben, auf dem heute das uralte Städtchen liegt. Später entstand an der Küste das neue Gerace Marina, das inzwischen den antiken Namen Locri trägt. So blieb das mittelalterliche Gerace komplett erhalten.

Wir schlendern durch eine der schönsten Altstädte Süditaliens. Beeindruckend ist vor allem die normannisch-romanische Kathedrale: Im Jahre 1045 wurde dieser größte Sakralbau Kalabriens geweiht und in der Stauferzeit erneuert. Noch älter sind die Säulen im Innenraum der Kathedrale: Sie stammen von den Tempeln des antiken Lokroi.

Weiter nördlich an der Ostküste Kalabriens lohnt sich der Halt in Crotone, einst die mächtigste Metropole der Magna Graecia auf süditalienischem Boden. Aus griechischer Zeit ist allerdings kaum noch ein Stein übriggeblieben. Nur eine einsame dorische Säule am Capo Colonna, elf Kilometer außerhalb der Stadt, kündet noch von einem der bedeutendsten Heiligtümer: dem Tempel der Hera Lacinia, erbaut zu Beginn des 6. Jahrhunderts vor Christus.

Man bräuchte Wochen, um all die Naturparks Kalabriens kennenzulernen, die Gebirge im Landesinneren mit ihren Wäldern, Flüssen, Schluchten und einsamen Bergdörfern. Inmitten der nördlichen Pollino-Gipfel liegt auf einem kegelförmigen Berg das wunderschöne Städtchen Morano Calabro. Fast 700 Meter hoch ziehen sich die übereinandergeschichteten mittelalterlichen Häuserreihen, und auf der Spitze thront wieder ein normannisches Kastell. Dieser Ort mit seinen steilen Treppen und besonderen Kirchen ist noch aufregender als Gerace und ein phantastischer Ausgangspunkt für Touren ins Gebirge.

Es ist unser letzter Abend in Kalabrien. Ein heftiger Wind kommt auf, es wird kühl auf der Terrasse, und wir schauen zu, wie nach und nach lange Schatten über die roten Dächer der Häuser fallen.