Kanada: Mit dem Wohnmobil durch die Wildnis. Im komfortabel ausgestatteten “Rolling Home“ lassen sich die Naturparks hautnah erleben.

Der Star des Abends trägt schwer. In exakt 13 Spitzen endet das weit ausladende Geweih, das der mächtige Wapiti-Hirsch zum sanften Rhythmus seiner schmatzenden Kiefer hin und her wiegt. Camcorder surren, Fotoapparate klicken. Der vierbeinige Hauptdarsteller scheint seinen Auftritt zu genießen - mitten auf dem riesigen Whistlers Campingplatz bei Jasper. Die Begegnung mit der Natur ist hier in Kanadas Westen anders als in Good old Europe. Näher, intensiver, ungeahnt vielfältig. Am besten lassen sich die Nationalparks der Rocky Mountains mit dem Wohnmobil "erfahren". Vor allem Familien schätzen die Flexibilität des "Rolling Home", schließlich sind Küche, Bad und Bett immer in Reichweite.

"Im Prinzip ist hier alles wie in Deutschland", meint Steffi vielsagend und fügt hinzu: "Manches ist aber auch anders." Die Münchnerin, die uns in der Vermietstation in Calgary in die Geheimnisse eines nordamerikanischen RV (Recreational Vehicle) einweist, weiß genau, wovon sie spricht. "Anders" heißt hier: mehr Platz, mehr Komfort, mehr Spaß am Reisen. Acht Meter lang, 2,40 Meter breit, ausgestattet mit Mikrowelle, Tiefkühlfach, Klimaanlage und dem (unvermeidlichen) Automatikgetriebe, so läßt es sich in der Wildnis leben.

Fehlt nur noch ein Full-hook-up-Platz. Das Zauberwort steht für nordamerikanische Camping-Bequemlichkeit schlechthin. Ein Kabel für Strom, ein Schlauch fürs Wasser, ein flexibles Rohr für die Entsorgung in die Kanalisation, mit "Full hook up" wird ein Wohnmobil erst richtig autark. Entsprechend gefragt sind die Plätze, eine kurzfristige Vorbestellung vermeidet vor allem in der Ferienzeit bis Mitte August unnötige Enttäuschungen.

Ganz sicher keine Enttäuschung haben wir von Mutter Natur zu befürchten. Türkisblaue Seen, gischtende Wildwasser, die durch enge Schluchten tosen, eingerahmt von atemberaubenden Gipfeln und endlosen Wäldern. Kanadas Nationalparks übertreffen sich mit Superlativen. Als eine der schönsten Panoramastraßen der Welt gilt der 230 Kilometer lange Icefields Parkway zwischen Lake Louise und Jasper. Wie auf einer Perlenschnur reihen sich die Aussichtspunkte, bestens ausgeschildert, problemlos anzufahren. Wenige Schritte genügen fast überall, um gigantische Gletscher (zum Beispiel den Crowfoot Glacier, natürlich das Columbia Icefield), einsame Seen (nicht verpassen: Peyto Lake und Moraine Lake) oder schäumende Wasserfälle (Athabasca Falls und Mistaya Canyon) vor Augen zu haben.

"Kroooah, kroooah", krächzt es aus dem Geäst über unserem Picknicktisch (auf allen Campingplätzen obligatorisch). Gray Jay hat Position bezogen. Keine zwei Minuten braucht der eichelhähergroße Vogel, um die Lage zu peilen und sich im Sturzflug ein Stückchen Brot vom Tisch zu picken. Ohne große Scheu sind meist auch die flinken Erd-, Streifen- und Eichhörnchen, die sich am Wegrand balgen. Die Fauna in Kanadas weitem Westen hat aber noch ganz andere Überraschungen zu bieten. Mit etwas Glück lassen sich Murmeltier und Kojote blicken, die Schneeziege hat bei "Goats and Glaciers" nahe Jasper einen eigenen Sightseeing-Stopp erhalten. Der Wapiti-Hirsch gehört auf dem Weg zum beliebten Maligne Lake zum festen Bild entlang der Straße, an der auch mal ein großes Schild auf den hier nicht selten anzutreffenden Wolf hinweist. Der unbestrittene König der Rockies aber ist der Bär. Und "Majestät" möchte gebührend behandelt werden! Grellgelbe Tafeln erläutern auf jedem Campingplatz die Verhaltensregeln, Ranger geben in den Nationalparks immer wieder Tips. Ernste Konflikte sind zwar selten, trotzdem heißt die Devise "Safety first".

Eine Wohnmobiltour durch West-Kanada muß aber nicht auf die grandiosen Parks rund um Banff und Jasper, um Revelstoke und Golden beschränkt bleiben. Neben der Rundreise gibt es bei vielen Vermietern auch die (aufpreispflichtige) One-Way-Variante. In Calgary den Wagen übernehmen, in Vancouver zurückgeben - kein Problem. Ohne nur Kilometer zu "fressen", schafft man so in drei Wochen locker auch noch den Sprung hinüber auf Vancouver Island. Die 130 Dollar für die Fähre von Horseshoe Bay nach Nanaimo sind bestens angelegt. "Die Insel", wie die Kanadier Vancouver Island liebevoll nennen, hat viel zu bieten. Die wärmsten Wellen des Pazifiks nördlich von San Diego zum Beispiel am endlosen Strand von Parksville. Oder die mehr als 100 Meter hohen Baumriesen von Cathedral Grove. Dann die wildromantische Seite des Pazifiks zwischen Ucuelet und Tofino, wo sich wagemutige Wellenreiter in meterhohe Brecher stürzen.

Adrenalinstöße nicht zu knapp verspricht auch eine Whale-Watching-Tour. "Nur keine Angst", ermuntert Dave seine zwölf Passagiere, die vor dem Zodiac-Boot stehen. Der Motor heult auf, peitscht die Alu-Gondel mit dem Schlauchboot-Wulst durch die ruppige See. Erst steuert Dave eine riesige Kolonie von Robben und Seelöwen an, die sich auf einer felsigen Insel in der Sonne aalen. Dann der erhoffte Kick: "Da vorn", schreit unser Guide gegen den Wind an, "ein kapitaler Grauwal". Zehn, zwölf Meter dürfte der Meeressäuger lang sein, der unerwartet nah am Ufer auf Futtersuche ist. Wieder sind wir der Natur auf neue Weise begegnet. Der Star an diesem Nachmittag verabschiedet sich mit einer meterhohen Fontäne.