Heiter bis wolkig

Ich dachte, ich kenne Antwerpen. Jedes Jahr fahre ich dorthin, um mir die "Night of the Proms" anzusehen - die berühmte Show aus Klassik und Pop. Und zwischendurch nehme ich mir immer die Zeit, um über die "Meir" zu bummeln, Antwerpens große Einkaufsstraße. Was ich jetzt in Antwerpen erlebt habe, schlägt alles. "Ich kenne da eine urige Kneipe", sind die Worte von Kapitän Harry, mit denen er uns kurz vor Mitternacht von Bord des Flußschiffes lockt. Wir, das sind seine Frau, ein Pärchen aus München und ich. Nach zehn Minuten Fußmarsch entlang der Schelde erreichen wir das "Cafe Beveren". Ein Cafe, das - bis auf Kaffee - alles ausschenkt. Komische Musik dringt von drinnen nach draußen. Es klingt nach Kirmes. Als wir die Tür öffnen, erkennen wir in den Nikotinschwaden einen riesigen Leierkasten. Oder ist es eine Orgel? Hat gar jemand eine halben Spielmannszug in die Wand eingemauert? Dieses Gerät hat ein Akkordeon, ein Schlagzeug, einige Orgelpfeifen und klingt wie ein Rummelplatz in den 60er Jahren. Davor tanzt ein Haufen Belgier zu den Klängen von "Tulpen aus Amsterdam".

Harry ordert die erste Runde Bier. Die Bardame Rachel sieht aus wie Beat-Club-Uschi mit 30 Kilo Übergewicht. Ein eng anliegender gelber Schnürpulli hält mit Mühe ihre beachtliche Oberweite zusammen. Vor dem Tresen stützt sich eine Frau ab, die auch als Mann durchgehen könnte. Kurzhaarschnitt, die Haut ist rosa-rot, die bläuliche Nase verrät ihr Hobby. Dazu trägt sie eine speckige Jeansjacke und eine genauso speckige Jeanshose, über die sie an diesem Abend schon das ein oder andere Bier gekippt haben muß. Gäbe es den Film "Die Schlampen von der Schelde" - sie hätte die Hauptrolle.

Der Leierkasten spielt "Delilah" von Tom Jones, und Harry hat uns in einer Schunkelrunde untergebracht. Johlend torkelt ein Junggesellenabschied in die Kneipe. Hendrik heißt der Bräutigam. In seiner Tasche hat er gelbe Quietscheentchen von der Größe eines Tischtennisballes. Nach und nach versenkt er in jedem unserer Biergläser eine davon. Ein Heidenspaß, die Belgier biegen sich.

Die Musikbox hat inzwischen den Leierkasten abgelöst. Jetzt ist hier endgültig Karneval ausgebrochen - im Mai! Jeder belgische Blödelhit wird lautstark mitgesungen, und so werfe auch ich 50 Cent in die Musikbox und drücke Lieder, die ich mein Leben lang gehaßt habe: "Mississippi" von Pussycat und "La Paloma Blanca" von der George Baker Selection.

Inzwischen ist Bardame Rachel mit dem Feudel von der Toilette zurückgekehrt. Irgendjemandem ist ein kleines Mißgeschick passiert. Sollte in Europa der Typhus-Erreger wieder auftauchen, dann zuerst hier, auf dem Klo des "Cafe Beveren". Nach meinem zehnten Bier und der Polonaise zu "Paloma Blanca" verlasse ich mit den anderen schwankend den Laden.

Harry, seit drei Runden bei Mineralwasser, grinst mich an. Antwerpen Alaaf!