Jugendherbergen: Auch für ältere Semester ist hier Platz. Weil Schulklassen immer seltener auf Reisen gehen, ist das Herbergswerk um neue Gäste bemüht.

Geisterstunde im Schloß Windischleuba. Türen knallen, Stimmen schallen, es knackt, kichert und kaspert um uns herum. Stimmt ja, wir befinden uns in einer Jugendherberge. Nächtliche Ruhestörungen sind da nicht ungewöhnlich. Nur, daß diese Schloßgeister keine pubertären Schüler mehr sind, sondern jahrelang auf der anderen Seite gestanden haben: Unsere Zimmernachbarn sind Lehrerinnen, die vor 35 Jahren ein gemeinsames Ausbildungsseminar in der Skatstadt Altenburg besuchten. Windischleuba liegt nördlich davon, eine kleine Schlafstadt am Gewerbegebiet. Aber an Schlafen ist nicht zu denken: Das fröhliche Wiedersehen setzen die Lehrerinnen in guter alter Klassenmanier im Sechsbettzimmer fort. Wein, Weiber und Geschnatter - was hat das eigentlich in einer Jugendherberge zu suchen?

Zugegeben, jugendlich sind wir selbst auch nicht mehr, und unsere Kinder sind es noch nicht. Aber dennoch Zielgruppe: "Der Familienanteil liegt bundesweit schon über 13 Prozent", erklärt Knut Dinter vom Deutschen Jugendherbergswerk. Wohlgemerkt, das ist der Bundesdurchschnitt, in Mecklenburg-Vorpommern stellen die Familien bereits jeden vierten Gast und im August auch mal vier von fünf Besuchern. Aber der Sommer ist vorbei, und wir suchen ein familienfreundliches Profil mit besonderem Flair, am liebsten gleich ein Schloß mit Dornröschenturm, Schatzkammer und handfester Geschichte.

Doch die Internetsuche nach den Kriterien Schloß und Familien-Profil spuckt nur eine Festung, Ehrenbreitstein in Koblenz, und drei Burgen mit mehr oder weniger Burgcharakter in Rheinland-Pfalz aus. Keines der 74 Häuser mit dem Prädikat "für Familien besonders geeignet" firmiert als Schloß. "Die Auszeichnung besagt nicht, daß andere Häuser nicht auch die familienfreundlichen Kriterien bei der Ausstattung, der Verpflegung und den Programmen erfüllen", erklärt Knut Dinter. "Geeignet für Familien sind sicher sämtliche Häuser." Na bitte, Hochstuhl und Wickelauflage brauchen wir eh nicht mehr. Und viel wichtiger als die Spielecke sind doch Ambiente und Atmosphäre.

Prächtig erscheint uns das Jagd- und Lustschloß Augustusburg am Rande des Erzgebirges. Familien werden hier in Sechsbettzimmern oder, wenn die Kinder größer sind, in zwei nebeneinander liegenden Zweibettzimmern untergebracht. Aber alle Betten sind schon vergeben. Weiter westlich, in Windischleuba, werden wir fündig. Das Schloß war vor 500 Jahren einmal Schutzburg, der Aussichtsturm zeugt noch davon. Nur leider dürfen wir ihn nicht besteigen. "Der Turm ist nur über Leitern erreichbar", empfängt uns Herbergsleiter Gert Herrmann. "Das zu versichern, ist unbezahlbar." Schöne neue Herbergswelt. Sicherheitsfragen dürften den letzten Schloßbesitzer Börris Freiherr von Münchhausen dort oben kaum beschäftigt haben. Der Dichter holte sich beim Blick über das Land an der Pleiße Inspirationen für seine Balladen.

Herbergsvater Herrmann tröstet uns mit allerlei Ausflugstips zwischen Leipzig, Weimar und Chemnitz, hat aber auch Prospekte vom Erlebnisbad, der Sommerrodelbahn oder dem Töpfermuseum für die jüngeren Besucher parat. Beim Gang durch den Ort wissen wir, warum: Windischleuba selbst hat seinen Gästen nichts zu bieten. Die Kirche ist wirklich ein Fall für die Versicherung und der Spielplatz von gelangweilten Jugendlichen besetzt. Wer außer uns mag Windischleuba besuchen?

Die Antwort folgt beim Abendessen: Im Speisesaal tafeln noch zwei weitere Hamburger Familien und ein Liebespaar. Kein Gedränge am Salatbüfett und bei der Essensausgabe, kein Stuhlgeschiebe und kein Geschrei. Allerdings auch kein ganz kindgerechtes Speiseangebot (ein Kriterium der Häuser mit der familiären Note): Unser Sohn vermißt den Nachtisch, unsere Tochter das Kaltgetränk, und beide lassen den Blumenkohl stehen. Nach Tisch führt der Herbergsvater höchstpersönlich durch das Schloß. Wir bestaunen Jagdszenen auf einer handbemalten Wandtapete, den Rokokostil des "Goldzimmers", erfahren das Geheimnis des Lügenkabinetts und wundern uns: So viele Schätze in einer Jugendherberge, dazu noch unbeschmiert: "Das macht der Respekt vor der Geschichte. Auch Schüler spüren, daß dieser Ort ein besonderer ist."

Wenn sie denn kommen, die Schüler. Seit 1989 leitet Gerd Herrmann das Schloß, und mit der Wende ist der Anteil der Schulklassen so richtig eingebrochen. "Jetzt gibt es nur noch alle drei Jahre eine Klassenfahrt und vor den Ferien schon gar nicht." Die leeren Betten füllen dann häufig Chöre und Orchester. Musikzimmer, Klavier, Flügel und sogar Orchestersaal sind vorhanden. Wir fühlen uns wie Schloßherren, spielen Karten in der Bibliothek, das Liebespaar sitzt Hand in Hand im Fernsehzimmer, die andere Familie schwitzt in der Sauna: "Wir müssen den Gästen etwas bieten", sagt Gerd Herrmann. Die Sauna konnte er nach der Hochwasserkatastrophe im Sommer 2002 einbauen: Meterhoch stand damals das Wasser über dem Schloßgraben, und der Landesverband Thüringen mußte eine Menge investieren, um die Herberge wieder flottzumachen. Jetzt vereint sie Alt und Jung; die dicke 120 Jahre alte Eichentür und moderne sanitäre Anlagen; Junioren und Senioren - zu denen man im Jugendherbergswerk übrigens bereits mit 27 Jahren zählt. Kann also sein, daß die Studenten, die sich hier Sonnabendnacht zum Skatspielen verabredet haben, auch schon die Seniorenpreise zahlen. "Am Wochenende wird es voll", hatte Gerd Herrmann verkündet. Es klang so gar nicht nach einer Warnung.

Am Frühstücksbüfett schaue ich giftig zum Klassentreffen hinüber. Aber gerade mal ein Viertel der Damen hat so früh den Weg aus den schmalen Etagenbetten gefunden. Und wieso sitzt da ein Schlipsträger mit am Tisch? Die kleine Gruppe gehöre nicht dazu, erklärt Gerd Herrmann später und murmelt etwas von einer Schulung und den Zeugen Jehovas: "Ich kann mir die Gäste ja nicht aussuchen." Wohl wahr.