Masuren: Wo die Zeit stehenblieb. Zwischen prächtigen Burgen und öden Plattenbauten erlebt der Reisende heute deutsch-polnische Geschichtsstunden.

Manche Landschaften erzählen auch in ihren Namen von sich. Die Toskana zum Beispiel, das klingt leicht, fröhlich, die Provence erinnert an Schönheit und Blüte. Und Masuren? Es ist ein melancholisches Wort, es rührt, langsam gesprochen, etwas in uns an. Masuren gehört zu den wenigen Regionen in der Welt, die so aussehen wie ihr Name klingt. Schön sind sie, aber über dem Landschaftsbild mit Ritterburgen, Storchennestern, stillen Dörfern, kristallnen Seen und dunklen Wäldern liegt ein melancholischer Schleier.

Woran liegt das? An der Geschichte. Auch unbedarfte Reisende, die keine Ahnung davon haben, daß die Burgen und Backsteinkirchen von Ordensrittern deutscher Zunge im Zuge der Christianisierung der Slawen errichtet wurden, daß das Kopfsteinpflaster der Städte und alte Kandelaber, aus denen nachts Bernsteinlicht tropft, deutsche Wertarbeit sind und die ostpreußische Landwirtschaft einst das halbe Deutsche Reich ernährte, spüren spätestens in den Orten, daß es hier einst eine Geschichte unter deutschem Vorzeichen gegeben hat. Auf den Grabsteinen stehen deutsche Namen und Sprüche, über Kirchenportalen "Ein feste Burg ist unser Gott". Bei Schriftstellern wie Günter Grass oder Arno Surminski ist das gesamte Werk von der "masurischen Wildnis" durchdrungen. Wer hier reist, erlebt manche Geschichtsstunde und wird oft deutsch angesprochen. Noch leben ältere Leute, die ziemlich gut die Sprache der einstigen Feindesnation sprechen, die Jüngeren beherrschen sie zumindest fragmentarisch. Polen und Deutsche sind historisch so eng verbunden wie keine anderen Völker in Mitteleuropa.

Masuren ist nie ganz polnisch und nie ganz deutsch gewesen. Es ist kein politischer, nur ein Landschaftsbegriff. Die slawischen Fürsten im Mittelalter haben keine Grenze gezogen. Als die Deutschen hier das Sagen hatten, mehr als 700 Jahre lang, gehörte die Gegend zur Provinz Ostpreußen. Nach dem Zweiten Weltkrieg fiel der nördliche Teil (mit Königsberg) an die Sowjetunion, der Rest an Polen. Schon vorher hatten sich im südlichen Teil von Masuren Polen und Deutsche vermischt, in manchen Gegenden wurde ein polnischer Dialekt gesprochen, und die Bewohner waren Protestanten. Nirgendwo ist deutsch-polnische Geschichte mehr ineinander verästelt als in diesem Land, in dem das Herz ein wenig höher klopft.

Ein Storch stakt über ein Feld und würdigt dabei sein Ah-und-Oh-Publikum keines Blickes. Er muß Futter für seine Brut heranschaffen, deren flatternde Schnäbel sich aus dem Horst auf dem Telegrafenmast strecken. An den Ufern der Seen, in denen die Sonne glitzert, stehen Angler wie Statuen. Mehr als 3000 Gewässer gibt es, viele sind schilfumgürtet, andere wuchern zu, versumpfen. Es gibt nicht genügend Landarbeiter, obwohl die Arbeitslosenzahl locker 30 Prozent erreicht. Wer arbeiten kann und will, malocht jenseits der Westgrenze als Spargelstecher, Hopfenzupfer, Schreiner oder Maler. Sanfthügelig ist das Land, mit Weiden voller Vieh, fruchtbaren Feldern und tiefen Wäldern, in denen neben Hirsch und Reh auch Elch und Wolf zu Hause sein sollen. Bei Biskupec/ Bischofsburg wird die alte Handelsstraße von Königsberg nach Warschau überquert. Entlang des Straßenbandes sind Christusse an Kreuze genagelt, tragen Marien sanftmütige Gesichter - Masuren ist seit dem Krieg ein katholisches Land.

Malbork/Marienburg liegt noch nicht in Masuren, sondern im Ermland, aber den größten Backsteinbau der Welt sollte man betrachtet haben. Zehn Millionen Steine sind benutzt worden für das Burgenkonglomerat mit Hofkirche, Kreuzgang, Gebäuden mit Sälen, Versorgungshäusern und dem furchterregenden Verlies. Die wuchtigen Mauern, Türme und Dächerhauben wirken aber noch mehr, wenn man sie als Gesamtheit sieht - vom Westufer der Nogat, über eine Holzbrücke zu erreichen.

Frombork/Frauenburg liegt am Frischen Haff. Zwei Berühmtheiten markieren das Städtchen: ein Backsteingotik-Ensemble auf dem Domhügel, das an der Ostsee seinesgleichen sucht, und Nikolaus Kopernikus, der bis zu seinem Tod 1543 hier lebte. In dem Turm inmitten der Anlage kreierte er die Theorie, nach der die Erde sich um die Sonne dreht, eine wahnsinnige Provokation für die Domherren. Dennoch zündelten sie nicht am Scheiterhaufen, Kopernikus liegt im Gotteshaus begraben. Wenn im Dom Bachsche Klänge ertönen, sitzt der Zuhörer ergriffen in der Bankreihe und erfährt wieder einmal, wie nahe die Kulturen von Deutschen und Polen sind.

Auch Olsztyn/Allenstein, die Hauptstadt von Masuren, ist historisch geprägt mit Ordensburg und Stadtmauer. Doch der Verwaltungssitz ist belebt, abends füllen sich Restaurants und Kneipen, in der warmen Jahreszeit gibt es fast jeden Tag Veranstaltungen auf der Freilichtbühne unterm historischen Rundturm. Allenstein, 170 000 Einwohner, ist eine moderne Großstadt mit altem Baubestand. Wie in Frauenburg und Marienburg haben auch hier polnische Restaurateure dafür gesorgt, daß die deutsche Pracht- und Wuchtarchitektur erhalten blieb.

Gleich hinter Allenstein beginnt die masurische Einsamkeit. Die Dörfer werden immer kleiner, schmiegen sich an Kornfeldränder oder Seeufer, die Alleen schmückt ein grünes Laubgewölbe. Alte Leute hüten ihre Ziegen, Bauern mähen Gras mit der Sense, Enten und Gänse watscheln ohne Eile übers Kopfsteinpflaster. Masuren erfüllt ein Klischee - ist es doch eine stille Landschaft, in der die Natur die Attraktion ist und sonst nichts. Ab und zu klappert ein Pferdefuhrwerk über die Jahrhunderte alte Straße, Raubvögel stoßen Klageschreie aus, Krähen tun sich wichtig. Aber das alles kommt nicht an gegen die Melancholie und Stille dieser verzaubert anmutenden Landschaft, in der die Uhren anders gehen - oder gleich gar nicht. An vielen Kirchen bewegt sich nichts am Ziffernblatt, in Polens Armenhaus sind intakte Kirchenuhren das Letzte, das Menschen umtreibt. Es gibt doch die Sonne, die alle Farben kräftig konturiert, und den Mond, der sich nachts in den Gewässern wälzt, in dem Kühe bis zum Bauch im Nebel stehen und geblendet ins fahle Licht glotzen.

Masuren ist eine derangierte Region, wie ein Zug auf dem Abstellgleis. Nach dem Ende der deutschen Verwaltung - aber nicht der Geschichte, die wieder auflebt durch Nostalgietouristen und Neugierige - wurde kaum in die Infrastruktur investiert. Die Vorzeigeobjekte sind vorbildlich instand gehalten, der Rest ist karg. In den Orten sieht man winzige, halb verfallene Häuser und primitive Plattenbauten. Warschau ist mehr als 250 Kilometer entfernt, also so weit weg wie New York oder Wladiwostok. Warschau hat uns vergessen, sagen die Leute. Was für Zugereiste den Reiz ausmacht, das Urwüchsige, die fast noch komplett erhaltene Welt von gestern, macht Einheimischen Mühe. Es gibt keine Industrie, die Landwirtschaft ist kleinbäuerlich. Sie hätten es gern etwas komfortabler, mehr ausgebaute Straßen, bessere Wohnverhältnisse, mehr Jobs. Sie lächeln, wenn die Touristen sie für glückliche Menschen halten, frei von Hektik und Unrast.

Doch an den Seen sehen auch die Einheimischen zufrieden aus. Die Gewässer wirken verwunschen, entrückt, und über ihnen wölbt sich ein Himmel mit mächtigen Wolkenformationen. Am Spirdingsee bei Mikolajki/Nikolaiken, einem alten Fischerdorf, gibt es die wohl schönsten Wildblumenwiesen Europas. Darin kann man stilvoll Picknick halten. Viele Seen haben ihre Rastplätze direkt am Ufer, man blickt auf Segelboote und kann eine Dampferfahrt unternehmen. Es ist auch möglich, Ruderboot, Tretboot oder Kanu zu mieten und einige hundert Meter hinauszupaddeln. Dann kann man sich in der Sonne wärmen, den Wellen lauschen, sich vom Wind streicheln lassen, die Vögel über sich beobachten und den Himmel, der nie tiefblau ist, sondern blaß. Wer das tut, hört sein Herz schlagen - und wird bald wiederkommen.