Landschaften wie aus dem Bilderbuch: In Polens Nordosten scheint es, als sei die Zeit stehen geblieben.

Allenstein. Ein Sonntag in Masuren. Hoch aufgerichtet steht der Pfarrer unter den alten Linden des Kirchplatzes - eine unübersehbare Autorität in schwarzem Ornat. Um ihn herum ein Gewimmel wie aus dicken Schneeflocken: zehn- bis zwölf-jährige Mädchen in weißen Spitzenkleidern, weißen Schuhen und weißen Tüllkronen auf dem Kopf. Kommunionsfeier in Pasym, einer Kleinstadt zwischen Allenstein/Olzstyn und Ortelsburg/Szczytno im nordöstlichen Teil Polens, einst Ostpreußen. Die Sonne blinzelt durch die Blätterkronen der knorrigen Baumriesen. Auf dem Dach des Bauernhauses gegenüber haben sich zwei Storchenfamilien einquartiert, unten auf dem Kirchplatz warten Polski-Fiats und blank geputzte Pferdekutschen auf die Eltern und Verwandten der Kommunikantinnen. Masuren. Der Name klingt weich und verlockend. Weckt Bilder an Dörfer, in denen die Zeit stehen geblieben zu sein scheint - vertraut wie ein Kindheitstraum. In seinem Buch "So zärtlich war Suleyken" ersann der Schriftsteller Siegfried Lenz ein ostpreußisches Arkadien. Suleyken - dieser fiktive Ort ist nirgendwo und überall in dieser Landschaft, die Sehnsüchte weckt. Sehnsüchte nach Ruhe und unverbrauchter Natur, nach endlosen Alleen und bunten Sommerwiesen, nach Wäldern mit klaren, fischreichen Seen und nach stillen Dörfern, in denen, um mit Arno Surminski noch einen anderen ostpreußischen Schriftsteller zu zitieren, "die Zeit immer ein paar Wegbiegungen hinterherhumpelte . . . " Masuren - das ist kein geographischer Begriff mehr, sondern längst Synonym für bilderbuchhafte Naturidylle und unvergessliches Landschaftserlebnis. Die Grenzen von einst existieren nur noch in Geschichtsbüchern. Das polnische "Mazury" umfasst heute etwa das Gebiet von der Weichsel bis zur Suwalki-Region an der Grenze zu Litauen und Russland. Südöstlich von Allenstein, einst ermländischer Bischofssitz, heute Hauptstadt der Region, erstreckt sich ein riesiges Waldgebiet. Sonnenstrahlen tasten wie lange, schmale Lichtfinger durch die Baumkronen, lassen das Grün der Blätter in allen Schattierungen aufleuchten. Und immer wieder blitzt es silbern durch die Stämme: kleine und größere Seen, gesäumt von Schilfgürteln und Bauminseln, auf denen Kolonien von Kormoranen hocken. "Von Weltenrande ließ Gott seine Perlen rollen", schrieb der ostpreußische Heimatdichter Hansgeorg Buchholtz. Genau 3312 dieser "Perlen" soll es in Masuren geben. Kleine, von dichten Schilfgürteln gesäumte Gewässer und große Seen wie den Spirdingsee bei der Stadt Nikolaiken/Mikolajky, mit rund 115 Quadratkilometern Wasserfläche der größte See Polens. Ideal für Paddler und Kanuten, die hier ein nahezu unberührtes Landschaftsparadies antreffen. Dunkle Wälder stoßen an die Ufer, in den Bäumen nisten Seeadler und Reiher. Weiß- und Schwarzstörche staksen durch die Niederungen - so zahlreich, dass sie die Wiesen und Moore gleich gruppenweise nach Mäusen und Fröschen absuchen. Die endlosen Waldgebiete sind die grüne Lunge Polens. Verständlich, dass die Woiwodschaft Olzstyn, die oberste Verwaltungsbehörde dieser Region, das ökologische Gleichgewicht der Landschaft für sanften Tourismus erhalten möchte - durch die Einrichtung weiterer, neuer Naturschutzgebiete und die Entwicklung einer ökologischen Landwirtschaft, die die Ressourcen weitgehend schont. Denn Masuren ist auch die Heimat von Elchen und Wisenten, von Bibern und Sumpfschildkröten. Wer zum ersten Mal kommt, reist vielleicht mit Vorurteilen ins Land. "Pass auf, dass dein Auto nicht geklaut wird!" hatten mich Freunde vor der Reise gewarnt. Und dann überall Herzlichkeit und aufrichtige Gastfreundschaft. Keine hektische Geschäftigkeit, kein Drang des Verdienenwollens. Die Preise sind erfreulich niedrig. Immer noch. Für ein Fischgericht (frischer Hecht oder Zander) zahle ich kaum mehr als sieben, acht Euro, für Getränke wie Bier oder Limo siebzig Cent.