Cape Cod ist als exklusive Halbinsel die bevorzugte Sommerfrische an der US-Ostküste.

Irgendwann im Frühling ist der Atlantik ein letztes Mal zum Aufräumen gekommen, hat bis in die Dünen hineingefaucht, den Strandsand neu sortiert und mitgenommen, was nicht dorthin gehörte oder er gerade haben wollte - manchmal ein Stück Straße, eine vorlaut Richtung Meer gebaute Terrasse oder ein halbes Ferienhaus. Im Frühsommer kommt er noch mal nachschauen, wischt den Sand, kontrolliert, ob die Boote im Hafen von Hyannis gut vertäut sind - und gibt fortan für ein paar Monate Ruhe. Als ob es eine ewige Absprache zwischen Natur und Anwohnern, zwischen Meeresgott und Tourismusverantwortlichen gibt: Von Ende Mai bis Mitte September gehören die Sandstrände von Cape Cod an der Ostflanke der USA den Urlaubern, und keine vorlaute Welle wird stören kommen.

Von einem Tag auf den anderen sind die Bootsbesitzer wieder da, gleiten die Yachten wieder draußen in der Bucht, sind Cafes geöffnet und Terrassen bewirtschaftet. Der Sommer ist zurück am "Kabeljau-Kap" von Massachusetts, das die ersten europäischen Siedler wegen des Fischreichtums der vorgelagerten Fanggründe vor knapp über 400 Jahren so tauften.

82 Kilometer sind es von Boston bis zur Westspitze dieser Halbinsel, die sich L-förmig wie ein angewinkelter Arm in den Atlantik reckt. Fast 200 Kilometer sind es von der Neuengland-Metropole bis Provincetown an der Spitze von Cape Cod.

Die Landzunge ist bevorzugte Sommerfrische vieler Bostonians, ist das "Sylt der US-Ostküste". Wer es sich leisten kann, besitzt ein Ferienhaus aus Holz, das sich an der Landstraße zwischen Falmouth, Orleans und Provincetown unter Kiefern und Pinien duckt, ohne Zaun auskommt, in sattem Rot oder Pastellfarben getüncht ist und sehr gemütlich aussieht. Je näher es am Meer steht, desto größer fällt das Haus aus, desto reicher sind die Bewohner - und desto gefährdeter ist es, wenn der Atlantik im stürmischen Winterhalbjahr Lust hat, wieder ein Stück Küste mitzunehmen und es erst weit draußen auf dem Ozean wieder loszulassen. Auch die Reichen leben ohne Zaun und Protz-Vorfahrt - und ohne Namenszug neben der Klingel. In Neuengland gilt Understatement noch als Tugend. Dafür sind die Sternenbanner ein bißchen größer als anderswo - und wahrscheinlich auch zahlreicher. In Wohnzimmerteppich-Format wehen sie am Heck der privaten Yachten wie der Ausflugsboote, an den Fahnenmastspitzen 15 Meter hoch über den Gärten der Häuser wie über den Eingängen der Cafes.

Von ein paar Prominenten weiß man, daß sie regelmäßig hierher kommen und oft auch eigene Häuser auf dem Cape besitzen: von Mariah Carey und CNN-Gründer Ted Turner, von Robert Redford und Barbra Streisand, von Wirtschaftsgrößen und Politikern. Und ganz besonders vom Kennedy-Clan, der in Hyannisport hof hält und so etwas wie die Königsfamilie des Cape ist - all das mit nicht mehr ganz so viel Understatement wie anderswo.

Diesen Morgen überholt ein Mann mit freiem Oberkörper, knapper Hose und Plastik-Rotor auf der Baseballkappe einen anderen im Mickey-Mouse-T-Shirt mit Fahnenstange und flatterndem Sternenbanner am Gepäckträger. Beide sind sie per Fahrrad unterwegs, strampeln von Provincetown Richtung Dünenstrand - und passen an diesem Zipfel der Landzunge ins Bild. Beiden geht es darum, möglichst aufzufallen. Der Ort versinnbildlicht die Gegenbewegung zum restlichen Cape mit der stillen Natur, den Schutzgebieten, mit Dünen, Sümpfen und kleinen Seen, ist das Gegenteil von Understatement: schrill, laut, beifallheischend, ein bißchen ums Provozieren bemüht. Provincetown brüllt: "Schau mich an, ich bin wie ich bin." Der Ort ist die Ostküsten-Bühne gleichgeschlechtlicher Paare, die sich hier zum Schaulaufen treffen: Männer küssen hier Männer, Frauen gehen Hand in Hand, und rot werden nur noch die zahlreichen Hummer auf den Tellern der Restaurants. Urlauberfamilien hocken mittendrin und schauen sich die regenbogenbunte sommerliche Alltagsinszenierung an. Da ist die Mutter mit den zwei Kindern, der es der Kellner im Italo-Look offensichtlich angetan hat. Am eigenen Ehemann vorbei sucht sie übers mehrere Decks hohe Club-Sandwich hinweg immer wieder heimlichen Blickkontakt und versucht ihren allzu schmachtenden Augenausdruck irgendwie zu überspielen - bis der schlaksige Wirt ihrem Lieblingskellner im Vorbeigehen in den Hintern kneift, die beiden sich kurz küssen und Hand im Hand Richtung Tresen laufen. . .

That's Provincetown. Die Show dauert den ganzen Sommer und kostet keinen Cent Eintritt. Manchmal nur gibt es Parkplatzprobleme am Bühnenrand.

An den Schönwetter-Wochenenden sind die Orte Cape Cods überlaufen. Den Stränden kann das nicht passieren. Dafür sind sie zu breit, zu weitläufig, zu dünengesäumt. Und mancherorts so still, daß nur ein leiser Luftzug durch den Piniengürtel pfeift und von nirgendwoher eine Stimme oder ein Motorengeräusch zu hören ist. Der Wind ist zum Spielen vorbeigekommen, packt ein paar Sandkörnchen und schraubt sie in kleinen Kreisen einen halben Meter empor, ehe er sie wieder herunterrieseln läßt.

Am Pfad zwischen den Bäumen hindurch kauern zwei Streifenhörnchen in der Einsamkeit und spielen Verstecken wie kleine Kinder. Als stellten sie gerade einen imaginären Disney-Zeichentrickfilm nach, wo Tiere in einer friedlichen Welt menschliche Züge tragen.

Der Mann mit dem Rotor-Hut, die Riesensternenbanner am Yachten-Heck, die Glitzerwelt der Kennedys, das Schaulaufen von Provincetown - alles liegt plötzlich eine Ewigkeit auseinander, und nur der Atlantik schaut aus der Ferne zu. Erst im Oktober kommt er stören.