Ostfriesland: Jetzt sind die Orte an der Küste noch nicht überlaufen - ein Ausflug lohnt.

Die Frage nach dem Baujahr der schönen Backsteinkirche mit dem freistehenden Turm beantwortet die alte Frau vor "Poppinga's Alter Bäckerei" mit einer Gegenfrage: "Kennt Se Ulfert Hoogstraat? De hett dat all in Kopp, wat in Greetsiel los is. He kunn Se veel vatelln." Tja, der kernige Mann mit den lebhaften blauen Augen ist ein faszinierender Fabulierer, der sein Heimatdorf kennt wie kein anderer. Und wenn er ein paar Döntjes in seine Erzählung einstreut, wird der Grog in den Gläsern und der Tee in den Tassen kalt. "Wißt ihr denn, was ein Häuptling ist", fragt er in die Runde. Und als eine Dame aus Dortmund leicht irritiert etwas von Indianern murmelt, grinst Ulfert verschmitzt. "Nee, ganz falsch. So nannte man früher hierzulande die Mächtigen. Greetsiel wurde im 14. Jahrhundert von der Häuptlingsfamilie Cirksena gegründet und entwickelte sich schnell zu einem florierenden Handelsplatz."

Auf einem Rundgang durch die "Puppenstube" Ostfrieslands weiht der ehemalige Bürgermeister seine Zuhörer in die wechselvolle Geschichte des kleinen Fischerortes ein. Die Zeile hübscher Giebelhäuser am Hafen zeugt vom Wohlstand der Gemeinde ebenso wie das "Hohe Haus" in der Hohen Straße. Der Renaissancebau wurde einst von der Obrigkeit als Versammlungsort genutzt und ist heute Hotel.

Im Hafenbecken gegenüber dümpeln Krabbenkutter, die Masten schwanken in der leichten Brise, die von der Nordsee herüberweht. Ulfert erzählt: "Neben den Reichen gab es ein Heer armer Leute, die in den bescheidenen Katen ihr Leben fristeten." Und als Preußen unter Friedrich dem Großen dann noch Besitz von Ostfriesland ergriff und ihre Freiheit beschnitt, ging für die stolzen Friesen fast die Welt unter. "Lieber tot als Sklave", lautet seit altersher ihr Wahlspruch. Sogar das Teetrinken, diese ostfriesische Kulthandlung, wollte der Alte Fritz verbieten. Das war zuviel! Die Menschen wanderten scharenweise ins benachbarte Holland aus, was dazu führte, daß das preußische Edikt schnell wieder abgeschafft wurde.

Die bleiche Sonne versinkt hinterm Deich, die Schatten werden länger. "is Teetied" neben der Kirche lädt ein für eine Pause. Inmitten kunstvoll geschnitzter alter Möbel gibt es würzigen goldbraunen Tee, gekrönt von einer Wolke frischer Sahne.

Am nächsten Morgen verlassen wir Greetsiel. Die mächtigen Zwillingsmühlen, Wahrzeichen des Ortes, spiegeln sich im dunklen Wasser eines Kanals. Uns klingen noch die Abschiedsworte eines Ortsansässigen in den Ohren: "Ihr seid zur rechten Zeit gekommen, um unser Dorf richtig zu genießen. Im Sommer ist es so belebt, daß man vor lauter Touristen die Schafe nicht mehr sieht."

Wir sehen ganze Herden, als wir auf der "Grünen Küstenstraße" nordostwärts nach Bensersiel rollen. Die vierbeinigen "Rasenmäher" sind für die Deichpflege unverzichtbar. Sie treten den Boden fest und halten die Grasnarbe kurz. Im Hintergrund baut sich ein Wald von Windrädern auf. "Moin", grüßt ein bärtiger Mann und tippt an seine blaue Schiffermütze. "Die ganze Landschaft is damit verspargelt. Und nachts kanns nich schlafen. Son Lärm machen die." Gegen Modernes, wenn es denn etwas Vernünftiges ist, hat er gar nichts einzuwenden, fährt er fort. Zum Beispiel Bensersiel mit seinen eleganten Neubauten und dem tollen maritimen Sportthemenpark - ein Ferienparadies für die ganze Familie! Und wer zur Abwechslung "in Kultur" machen will, begibt sich ins nahegelegene Esens mit seinem schönen Marktplatz und dem imposanten Rathaus, wo wertvolle Gemälde und Gobelins zu bewundern sind.

Zehn Kilometer weiter nach Osten. Der Hafen von Neuharlingersiel ist einer der schönsten Ostfrieslands. Manche behaupten sogar, er sei der malerischste an der ganzen Küste. Schmucke rote Klinkerhäuser rahmen das Hafenbecken. Emsige Hände tragen prall mit Krabben gefüllte Kisten an Land, während eine Möwenschar über ihren Köpfen darauf lauert, den einen oder anderen Happen zu ergattern.

Der "Sielhof", ein schloßartiger Bau, umgeben von einem weitläufigen Park, ist der ganze Stolz der Einheimischen. "Halt, stopp", wendet die energische Frau Mäntele ein, ihres Zeichens Marketingleiterin des Kurvereins Neuharlingersiel. "Wir sind Nordseeheilbad, das höchste Prädikat, das es im Bäderbereich gibt. Darauf halten wir uns auch etwas zugute." Ein mit Meerwasser gefülltes Schwimmbad sorgt für maximalen Urlaubsspaß. Und von den verglasten Veranden des Kurmittelhauses genießt der Gast atemberaubenden Blick auf das Meer.

Nächste Station: Carolinensiel-Harlesiel. Im "Cafe Caro" in der Nähe des Museumshafens laben wir uns beim Anblick herrlicher alter Segelschiffe. Das "Deutsche Sielhafen Museum" besteht aus drei historischen Gebäuden. Während "Mammens Groot Huus", ein schöner alter Speicher, die Geschichte der Siele, Häfen und Deiche, der Fischerei und Schiffahrt dokumentiert, erinnert das "Kapitänshaus" daran, wie die Menschen früher hier lebten - vom alten Kramladen über die gute Stube bis zur Seemannskneipe inklusive Mitbringseln aus aller Herren Länder. Besonders spannend geht es in der "Alten Pastorei" zu. Dort werden alte Handwerke dargestellt. Wer nicht weiß, was ein Segelmacher tut, lernt es hier. Ob Bootsbauwerkstatt, Blockmacherei oder Schiffsschmiede - alles darf ausprobiert werden. Über allem wacht ein Klabautermann mit rotem Igelhaarschnitt und Armen aus dicken Schiffstauen, den die Kids echt cool finden.

Wir haben dagegen nur eine Frage: Was ist denn eigentlich ein Siel? Die "Siele" Ostfrieslands, die wie eine Perlenschnur hinterm ostfriesischen Nordseedeich liegen, haben alle ihren eigenen Charakter und sind einzigartig. Hans-Ulrich Elter von der Nordsee GmbH in Wilhelmshaven liefert die Erklärung: "Ganz einfach. Das ist eine Schleuse, die man zur Entwässerung des Binnenlandes nutzte. Sie ist mit Toren und Klappen ausgerüstet, die sich bei Flut schließen und sich automatisch öffnen, wenn das Wasser wieder fällt." Dann lacht er verschmitzt: "Eine geniale Konstruktion, die auch nur einem Ostfriesen einfallen konnte."