Mexiko: MEXIKO Auch heute noch fährt man mit flachen Booten durch die “schwimmenden Gärten“.

Wenigstens das Boot schwimmt. Die Gärten tun es nämlich nicht, obwohl sie so heißen: "schwimmende Gärten" eben. Was man sieht, während der junge Fährmann namens Diego seine Stange ins trübe Wasser der Kanäle taucht, sind Baumreihen und lockeres Buschwerk, die kleine Inseln umsäumen. Man dümpelt durch eine Art Spreewald, allerdings einen ohne Gewürzgurken und mit Blick auf einen Ring aus Vulkanen, der Mexico City weitläufig umgibt - selbst wenn der von über 20 Millionen Menschen bewohnte Moloch schon gierig die Hänge der Berge hinaufkriecht und hier und da über die Kammlinie schwappt.

Das also sind die Überbleibsel des riesigen Texcoco-Sees, an dem die Azteken vor fast 700 Jahren nach langer Wanderung ihre neue Heimat fanden. Nachdem die Spanier nach ihrem Sieg über das stolze Indianervolk schon im 16. Jahrhundert damit begannen, den See trockenzulegen, haben nur dürftige Reste der "schwimmenden Gärten" (Chinampas) von Xochimilco, einem südlichen Bezirk der Hauptstadt, überdauert.

Vor der Ankunft der Spanier gediehen auf den äußerst produktiven, künstlich angelegten Feldern aus fruchtbarem See-Schlick Blumen, Feld- und Gartenfrüchte. Auch rings um Tenochtitlan, die auf einer Insel im Texcoco-See gelegene Hauptstadt des Azteken-Reichs, säumten riesige von Wasseradern durchzogene Gärten das Ufer. Die Mexica, wie die Azteken sich nannten, hatten die Anbauflächen dem See mit Rohrgeflecht und Baumreihen so kunstvoll abgerungen, daß die Spanier die Stadt als "neues Venedig" bezeichneten - ein nur per Boot oder über kilometerlange Dämme erreichbares Wunder der Neuen Welt: "Einige unserer Soldaten fragten, ob das nicht nur ein Traum sei", schwärmte Bernal Diaz del Castillo, ein Mitglied der Expedition von Hernan Cortes, des machthungrigen Eroberers von Tenochtitlan.

Die Azteken mußten Neuland gewinnen, weil immer mehr hungrige Mäuler zu stopfen waren und die Felder knapp wurden. Ihr Hauptsitz, das heutige Mexico City, war schon damals seiner etwa 250 000 Einwohner wegen eine der größten Städte der Welt. Zum Ersatz von Frischwasser, das früher aus natürlichen Quellen in die Chinampas floß und heute den Durst der Metropole stillen hilft, werden seit 1950 Haushaltsabwässer in die Kanäle geleitet. Seit 1990, als die Wassergärten von Xochimilco zum städtischen Ökologie-Park ausgerufen wurden, werden die Einleitungen immerhin halbwegs geklärt - sofern die Anlagen funktionieren. Zusätzlich wird aus Bergbächen frisches Naß herangeführt, das den Sauerstoff-Gehalt der Kanäle hebt. So lebt zumindest ein Teil der Fische lange genug, um in den Keschern der Chinampas-Bewohner zu enden.

Probleme mit der Wasserqualität sind kein neuzeitliches Phänomen, denn schon die Azteken hatten mit dem brackigen Wasser des abflußlosen Sees so ihre Probleme. Sie konnten die Versalzungsgefahr nur durch ein ausgefeiltes System von Dämmen, Schleusen und Frischwasser-Zuflüssen in den Griff bekommen.

Vor 20 Jahren sind 165 Hektar Chinampas zur "Zona Conservacion Ecologica", zum Naturschutzgebiet, erklärt worden; 1987 wurden sie gar Unesco-Weltkulturerbe. Doch die Gefahr ist nicht gebannt. Denn Bauland ist knapp in Mexico City, und die Menschen sind arm. Gesiedelt wird, wo es geht und niemand ernsthaft Anstoß daran nimmt. Notfalls helfen Schmiergelder beim Zudrücken beider Augen. So sind jedes Jahr Tausende illegaler Häuser und Hütten in den Chinampas entstanden - und belasten sie mit ihren Abwässern.

An Wochenenden werden die Wasserwege von Xochimilco zu Lebensadern in einem ganz unökologischen Sinn: Dann strömen aus der Hauptstadt zahllose Ausflügler heran, schiffen sich auf die quietschbuntbemalten Boote ein und lassen sich durch die Kanäle flößen. "Alina", "Carmen" und "Gabriela" haben die Fährleute ihre überdachten Schiffchen für bis zu zwanzig Fahrgäste getauft. Musikanten spielen auf den Booten einem hoffentlich zahlenden Publikum vor.

Etwas Geld zu verdienen versuchen auch die Bewohner der Chinampas: Etliche bieten Bootstouristen für ein paar Pesos ihre Toiletten ("Sanitarios") an; andere setzen ihre schwimmenden Garküchen in Betrieb, grillen Fleisch und häufen es zusammen mit Salat oder Gemüse in Teigtaschen. Solche scharf gewürzten Genüsse sind nicht unbedingt für jeden etwas, und die Mägen von Touristen kann das Angebot leicht überfordern. "Das bunte Treiben sollte man wenigstens einmal genossen haben, die Speisen der Garküchen besser nicht", rät Wolfgang Gockel in seinem Mexiko-Reiseführer.

Nachdem die Spanier nach 1521 das Kommando übernahmen, verloren die Chinampas an Bedeutung. Sie brauchten Pflege und bedurften kontrollierter Wasserwirtschaft; vor allem die Zufuhr an Frischwasser war zu gewährleisten. Doch die Spanier hatten andere Bedürfnisse: Dank ihrer von Pferden gezogenen Wagen mußten sie Feldfrüchte nicht länger nah bei der Stadt anbauen. Statt dessen schufen sie Weiden und Land für den Trockenfeldbau ohne Bewässerung. Die Inselbeete verkamen, die Kanäle versumpften und fielen trocken. Zudem rafften Infektionskrankheiten, die von den Spaniern eingeschleppt worden waren, viele Ureinwohner hinweg - das förderte den Verfall der "schwimmenden Gärten".

In vorspanischer Zeit soll es 12 000 Hektar an Chinampas allein am See bei Xochimilco gegeben haben. Jeder Hektar ernährte bis zu 20 Menschen, so daß allein diese Wassergärten die Einwohner von Tenochtitlan versorgen konnten. Heute werden noch einige hundert Hektar von Bauern, den chinamperos, mit Mais, Spinat, Salaten und Blumen bestellt - wirklich geschützt sind davon noch 165.