Der Reformator ist Held in einem neuen Kino-Epos. Seine Heimat erhofft sich deshalb noch mehr Gästezuspruch - nicht nur aus Deutschland, sondern auch aus den USA.

Wittenberg. Der Mittvierziger hat allen Grund, sich zu ärgern. Als Komparse schlüpft er täglich in den schwarzen Gelehrtenrock, schiebt die grauen Haare unters Barett und steht dann mit vergeistigtem Gesicht auf der Gasse, wie einem Cranach-Gemälde entstiegen. Er verkörpert Philipp Melanchthon, den Mitstreiter des Reformators. Was aber sagen die Leute? "Guck mal, der Luther!"

Wittenberg preist seine großen Männer nicht nur in Kirchen und Museen, sondern lässt sie auch als Kopien über Straßen und Plätze wandeln. Die Vergangenheit der Stadt, aufs Engste verknüpft mit dem einschneidenden gesellschaftlichen Umbruch namens Reformation, der zur Neuordnung Europas führte, ist der Stadt marktfähigstes Produkt. Erst recht, seitdem Eric Tills Spielfilm "Luther" in den Kinos läuft. Der Schauspieler Joseph Fiennes (bekannt aus "Der englische Patient") verkörpert den Reformator. Er lief zwar noch nie über Wittenberger Kopfsteinpflaster und keine einzige Szene wurde im historisch geweihten Gemäuer der wunderschön restaurierten Altstadt, teils Unesco-Weltkulturerbe, gedreht.

Aber das stört die Wittenberger nicht. Sie glauben, dass viele Kinogänger nun auch die reale Vorlage sehen wollen - ja, sie erwarten den Boom. Vor allem US-Amerikaner, überwiegend Protestanten, sollen in Scharen kommen. In deren Land ist der Film ein Kassenfüller.

"Die Reaktion ist gewaltig", sagt Stephan Schellhaas, der das Tourismusbüro leitet. "In Amerika gehen ganze Kirchgemeinden ins Kino. Pfarrer schreiben E-Mails, in denen sie ankündigen, im Frühjahr mit einem großen Teil ihrer Gemeinde zu kommen. Das wird eine Völkerwanderung. Wir erhalten auch Post aus katholischen Regionen, denn die Reformation ist schließlich Weltgeschichte. Für die Medien ist Luther ein Superstar. Und der erste Reiseveranstalter hat jetzt ein Sonderprogramm aufgelegt."

Mehr Gäste, mehr Spektakel. Dafür sorgt die Reformatorentruppe in historischen Kostümen. Der den Melanchthon gibt, steht erklärend vor dessen Haus in der Collegienstraße. Melanchthons Frau, Tochter des Bürgermeisters, brachte es als Mitgift in die Ehe. Es bestand aber nur aus Lehm und Holz, weshalb der berühmte Gelehrte, der Studenten aus ganz Europa anzog, nicht repräsentativ wohnte. Also beschloss der Magistrat, dem "gelahrten Doktor" das Haus auf Stadtkosten zu verschönern. Melanchthon erhielt eines der schönsten Renaissance-Kleinodien Wittenbergs, nach kürzlicher Sanierung wie aus dem Ei gepellt, mit dem Stufengiebel von 1536 statt DDR-Putzgrau.

Interessant! Aber nur einer hat mit dem Tintenfass den Teufel traktiert, derbe Sprüche losgelassen, die Lutherbibel geschrieben, wacker gezecht und sich auch noch mit einer entflohenen Nonne verbündet. "Ich habe mich ihrer erbarmt", knurrte der Macho am Tag der Hochzeit mit Katharina von Bora. Bald darauf nannte er sie respektvoll "Herr Käthe", denn die Mutter seiner Kinder war von herrischem Wesen. Die Wittenberger können sehr süffisant werden, wenn sie Geschichten über diese Ehe weitergeben. Der Reformator selbst sagte, er habe sein Weib nicht geliebt, aber "für wert gehalten".

Von der Zweckehe profitierte er am meisten: Käthe hielt ihm den Rücken frei, ihr unterstand der gesamte Haushalt, sie kochte für einen Großteil der geistlichen Revolutionäre, die sich mit Rom angelegt hatten, und neuesten Forschungen zufolge gehörte sie als einzige Frau zum Kreis der Reformatoren und hatte Einfluss. Doch nur wegen ihm, dem Sprücheklopfer, trägt Wittenberg offiziell den Beinamen "Lutherstadt". Der kleine Dicke mit der robusten Art ist Zugpferd. Die Touristen, die in chromglänzenden Bussen kommen, grölen und klopfen sich auf die Schenkel, sobald bekannte Aussprüche zitiert werden: "Warum rülpset und furzet ihr nicht, hat es euch nicht geschmecket?" Oder die Luthersche Regel für optimale geschlechtliche Frequenz in Partnerschaften: "In der Woche zwier schadet weder dir noch ihr."

In Wittenberg ist sein Name allgegenwärtig. Luther-Straße, Luther-Apotheke, Luther-Gymnasium. Im Juni das Stadtfest "Luthers Hochzeit", im Sommer Fußball um den Luther-Cup, Ende Oktober Trubel zum Reformationstag. Die Gastronomie mit Luthertellern, Lutherbier, Lutherlikör. Im Souvenir-Shop Lutherbecher, Lutherbro(d)t und Krüge, Tassen, Gläser, Taschen und T-Shirts mit dem Konterfei des Reformators. Der Renner sind Luthersocken für 8,50 Euro mit dem Aufdruck des bedeutendsten aller seiner Sprüche: "Hier stehe ich. Ich kann nicht anders." Das schleuderte er vor dem Reichstag zu Worms den blasierten Fürsten entgegen, flüchtete danach, versteckte sich in der Wartburg bei Eisenach, zettelte die Reformation an und machte aus Wittenberg das "Rom der Protestanten". "Die Socken sind praktisch, es gibt sie in mehreren Farben", sagt Schellhaas. "Ich darf es eigentlich nicht verraten, aber nicht ich habe sie erfunden - es war ein Pfarrer."

Wer durch die Altstadt schlendert, ist in der Kulisse der Reformationszeit angekommen. Im 16. Jahrhundert war die Universitätsstadt ein geistig-kulturelles Zentrum, kontinentweit galt sie als Hort der Freiheit. Mit Millionen ist die Innenstadt aufgepäppelt worden. Ein bewohntes Freilichtmuseum, denn Wittenberg lebt fast ganz vom Tourismus. Vom Chemiewerk aus DDR-Zeit blieb nur ein kläglicher Rest. Viele Arbeitsplätze gingen verloren, aber die Wittenberger freuen sich auch über das Stopfen der Dreckschleuder. "Wir hatten hier früher Chemie in allen Farben und Gerüchen", sagt Stadtführerin Urte Neubert. "Jetzt kann man wieder richtig atmen."

Vor dem Bronzetor der Schlosskirche legt sich Andacht wie eine Wolke über die Pilger. Dabei ist die Thesentür beim Beschuss der Stadt 1760 verbrannt, und es steht nicht fest, ob Luther 1517 seine provozierenden Thesen gegen den Ablasshandel und die Bereicherung des Klerus wirklich an diese Tür gehämmert hat. Aber der Film hat einen dramatischen Höhepunkt, wenn Joseph Fiennes Papier wedelnd die Treppe hinauf stürmt - obwohl es hier gar keine Stufen gibt.

Jede Menge Geistesheroen kamen nach Wittenberg. Giordano Bruno war hier, Novalis wohnte als Student im Leucorea. Goethe logierte im "Goldenen Adler", und Lucas Cranach der Ältere, Zeitgenosse Luthers, wurde 1505 zum Hofmaler berufen. Er betrieb eine Druckerei, eine Malschule und erwarb das Privileg, in seiner Apotheke Mixturen aus Kräutern verkaufen zu dürfen sowie "Wurtz, Confect, Zucker, Tiriac und geferbet Wachs". Cranach war ein gewiefter Geschäftsmann, brachte es zu Vermögen und zum Bürgermeister. Zwei von Cranachs Gebäudekomplexen am Markt, beide mit lauschigen Innenhöfen, überstanden den Sozialismus nur knapp. Nun sind sie Kunst- und Kommunikationszentren. Mit Deckenmalereien aus der Renaissance, kostbaren Stuckdecken aus dem Barock. Im Hof wird Theater gespielt, ein Schriftsetzer betreibt eine historische Druckerstube.

Schon zu Cranachs Zeit wurde aus der Verlutherung Kapital geschlagen. Der Maler ließ seine Schüler Lutherbilder in Serie herstellen und versorgte reformierte Kirchen mit Altarbildern. Klar, dass auch Lucas Cranach als historische Figur nachgestellt wird. Und was sagen die Leute? "Guckt mal, der Luther!"