Es ist wenig Geld da. Dennoch ist die litauische Stadt einen Besuch wert. Schon allein wegen ihrer skurrilen Künstlerkolonie.

Vilnius, neben Linz in diesem Jahr europäische Kulturhauptstadt, hat in seiner 1000-jährigen Geschichte so viel erlebt und erlitten, dass es auf Engelshilfe angewiesen ist. Einer hockt mit Melancholiegesicht und schlappen Flügeln auf einem Kiosk am Gedimino Prospekt, der Hauptgeschäftsstraße. Andere sitzen auf Dächern von Gebäuden, und jenseits der Vilnelè, die wild schäumend durch die Stadt rauscht, bläst ein ganz Großer der geflügelten Garde der selbst ernannten "Künstlerrepublik" mit seiner Trompete den Marsch.

Das haben einige Leute im romantischen Stadtteil mit der von pastellfarbenen Bürgerhäusern gesäumten Uzupio-Straße auch nötig. Dort ballen sich Künstler, Hippies, Pseudo-Punks und andere Variationen des alternativen Lebensstils. Sie hocken nächtens endlos in der "Uzupis Kaverne", einer schrillen Kneipe unter Linden am Fluss, reden über ihr Leben. Die Leute um den Chef der Republik, den Filmemacher Roman Lileikis mit wasserblauen Augen und gelegentlicher Alkoholfahne, haben den populären Stadtteil vor elf Jahren als Künstlerkolonie ausgerufen. Damals begannen Häuser aus der Gründerzeit zu verfallen, die Infrastruktur war marode, das "Messerstecher"-Viertel der Banditen, Prostituierten und Armen hatte ein mieses Image. Nach dem Motto "Ist der Ruf erst ruiniert, lebt sich's gänzlich ungeniert" wollten die Alternativen das ändern und luden den Dalai Lama zum "Staatsbesuch" ein. Das Oberhaupt der Tibeter wollte wissen, was sie in Uzupis mit Kriminellen machen. "Wir leben mit ihnen", sagte Lileikis. "Wenn man sie kennt und respektiert, geben sie Ruhe." Der Buddhist und der litauische Gutmensch verstanden sich ausgezeichnet. Bei seinen Landsleuten steht Lileikis allerdings eher im Ruf, ein Spinner zu sein.

Demnächst beginnt für die Künstlerkolonie das zwölfte Jahr. Bürger von Uzupis wird man "mit dem Herzen", man muss sich aber an die Verfassung halten. Sie hängt in mehreren Sprachen an einer Hauswand und listet Bürgerrechte auf. Jede/r hat das Recht, einmalig zu sein, zu lieben, glücklich oder unglücklich zu sein. Doch: "Niemand hat ein Recht auf Gewalt." Es gibt selten Zwist oder gar Schlägereien.

Sie mögen skurril sein, die Alternativen, die Fassaden ihrer Künstlerhäuser bunt tünchen, Hütchen und Tücher tragen und Verliebte am Brückenzugang animieren, als Zeichen ihrer ewigen Treue dicke Sicherheitsschlösser an einer Eisenkonstruktion anzubringen. Doch sie machen das gerne und ohne Honorar. Das freut die Stadt, denn Vilnius hat zu wenig Geld für das Kulturhauptstadtjahr, etwa 40 Prozent des Budgets von 85 Millionen Euro sind wegen der aktuellen Finanzkrise von der Regierung gestrichen worden.

Uzupis ist arm, aber sexy. Der pittoreske Stadtteil ist das Alternativenviertel der Halb-Millionen-Stadt Vilnius, mit Bewohnern, die sich gern als Italiener des Baltikums sehen. Ein bisschen chaotisch, immer improvisierend, mit Charme und einem Lächeln. Das kommt gut, denn Litauer gelten eher als spröde, behäbig im Service und unflexibel. Ob das nur ein Vorurteil ist, wird sich zeigen. Erwartet werden in der warmen Jahreshälfte drei Millionen Touristen, die bei Dienstleistungen ein Umsatzplus von 15 Prozent bringen sollen.

Vilnius besitzt Osteuropas größte Altstadt, mit verschachtelten Häuserensembles aus dem 16. bis 19. Jahrhundert und geschwungenen Gassen, die Kulissen für Filme waren. Am schönsten ist die Bernardinu-Gasse. Das klassizistische Rathaus, heute Künstlerhaus, und die 1513 gegründete Universität mit 13 Innenhöfen im Stil der Renaissance sind Hingucker. Über 40 Kirchen hat die Stadt, viele davon schwelgende Barockorgien. Es gibt auch wieder eine Synagoge, einst hatte die Stadt mehr jüdische als christliche Bethäuser. Vilnius war 1000 Jahre ein Zentrum jüdischen Lebens, das "Jerusalem Litauens". Nirgendwo in Europa gab es mehr Rabbiner und Gelehrte, noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war ein Drittel der Bevölkerung jüdisch und die Stadt ein Brennpunkt jiddischer Kultur. 70 000 litauische Juden verschwanden im Holocaust. Auch unter den Sowjets, die das Land 1944 okkupierten und erst 1991 unabhängig werden ließen, wurden jüdische Gräber geschändet, unter Beihilfe litauischer Kollaborateure. Ein nach wie vor leidvolles, unaufgearbeitetes Kapitel.

Im KGB-Museum versteht der Besucher, warum Balten mit Russen wenig zu tun haben wollen. Nachdem diese das Land besetzt hatten, formierte sich in den Wäldern eine Partisanenarmee, die erst 1953 von der Roten Armee aufgerieben werden konnte. Mehr als 20 000 Litauer und eine unbekannte Zahl russischer Soldaten verloren ihr Leben. Gefangene litauische Widerständler wurden in Zellen eingepfercht und gefoltert. Auf der Frontseite des Gebäudes, das 1890 als Gericht eingeweiht worden war und es bis heute ist, sind Tafeln mit den Namen Hingerichteter angebracht. Die Dokumentation in den Räumen darüber ist erschütternd. Zum Kulturhauptstadtjahr werden Zellen gezeigt, die jüngst erst entdeckt wurden.

Auf dem Burgberg steht eine Ruine, auf der Litauens gelb-grün-rote Flagge weht und die einst die Gründerburg des litauischen Großfürsten Gediminas war. Der steht hinter der Kathedrale mit stierem Blick hinter seinem Pferd auf einem Sockel, als hätte er ein Alkoholproblem wie mancher in Uzupis. Vilnius ist eine Bierstadt, schon mittags wird ein halber Liter runtergespült, später kommt der sanfte litauische Wodka dazu, der neben der Küche mit Hering und Haselhuhn in Schmand und dem Kartoffelkloßgericht Cepelinai, gefüllt mit gewürfeltem Schinkenspeck und Hackfleisch, sowie in frischem Knoblauch getränktem Schwarzbrot Nationalgericht ist.

Ein Festival der Sakralmusik wird es in den Kirchen der Stadt geben, ins Theater rücken die Jazzer aus halb Europa ein und die Nationalgalerie zeigt Landschaftsbilder des jung verstorbenen litauischen Nationalkünstlers Mikalojus Konstantinas Ciurlionis. In der Oper erklingen Werke der Spätromantiker, von europäischen Orchestern und einem aus Tel Aviv aufgeboten. Ab Mai ist Vilnius zusätzlich "Europäische Hauptstadt der Poesie", im Sommer gibt es die erste Kunstmesse in der Stadt und die Alternativen laden zur "Tagung der Montmartres". Der 6. Juli ist der wichtigste Tag des Festivals, Litauens tausendster Nationalfeiertag. Auf tausend Hügeln im ganzen Land werden Feuer entzündet und 30 000 Chormitglieder werden litauische Lieder singen - alle ehrenamtlich.