Kastilien gilt als schönste Gegend Spaniens. Nur “Dichter und Träumer“ sollten sie betreten dürfen.

Madrid/Segovia. Der spanische Dichter Gustavo Becquer (1836-1870), der in schwermütigen Oden und Balladen die Schönheit Kastiliens besang, hatte gefordert, Toledos Stadttore zuzumauern und alle Eingänge zu versperren. Nur "Dichter und Träumer", so wünschte er sich, sollten die Stadt betreten dürfen. Allen anderen müsse verboten werden, "auch nur einen dieser kostbaren Steine Toledos zu berühren . . . " Becquers Sorge war nicht ganz unberechtigt: Im Sommer strömen täglich beinahe mehr Besucher durch Toledo, als die einstige Hauptstadt Kastiliens an Einwohnern zählt - Reisegruppen aus Japan und Taiwan ebenso wie aus Italien, Frankreich und Deutschland. Verständlich: Toledo, hoch auf einem Granitfelsen über dem Rio Tajo erbaut, preist sich selber als "die schönste aller spanischen Städte, reich an Kunstschätzen und mit einer Atmosphäre, in der das Mittelalter noch lebendig zu sein scheint". Jüdische Einwanderer und maurische Eroberer, die im 8. Jahrhundert die iberische Halbinsel besetzten, prägten das Bild dieser Stadt. Mehr als vier Jahrhunderte lang existierten jüdische, maurische und christliche Traditionen einträchtig nebeneinander - ein "Mekka der Toleranz und des freien Geistes". Sie schufen auch jenen unverwechselbaren Mudejar-Stil Toledos, der sich von hier aus über ganz Spanien verbreitete. Moscheen und Synagogen, nach der Rückeroberung Spaniens aus arabischer Herrschaft in christliche Kirchen umgewandelt, zeugen noch von dieser unverwechselbaren Baukunst. Kein Wunder, dass die Unesco Toledo schon 1982 als erste spanische Stadt unter ihren Schutz stellte. "Sie müsste auch dafür sorgen, dass diese hässlichen Schilder wieder abgebaut werden", sagt Antonio Casparros und deutet ärgerlich auf einen Getränkekiosk mit einer Cola-Reklame. Dabei profitiert er selber vom Tourismus. In einem alten Mauerrest der Stadtbefestigung hat er sich eine kleine Werkstatt eingerichtet, nur ein paar Schritte von dem Haus entfernt, in dem der Maler El Greco seine düster-visionären Bilder schuf. Dort arbeitet Antonio mit Hämmerchen und Gravierstichel, um Messer, Schwerter- und Degenklingen mit feinen Gold- und Silberfäden zu schmücken. Jene typischen Toledaner Einlegearbeiten gehören heute als "Damaszener Klingen" zu den begehrtesten Souvenirs. Vom Alcazar, der mächtigen Stadtfestung, die wie eine Krone Toledos Dächermeer überragt, reicht der Blick weit ins Land. Südlich von Toledo, jenseits des Rio Tajo, der die Stadt in einer Schleife umschließt, beginnt die Heimat von Miguel des Cervantes und seiner unsterblichen Romangestalt Don Quijote: La Mancha, das Land der Windmühlen. Nördlich von Toledo erstreckt sich die kastilische Meseta, eine weite Hochebene, baum- und schattenlos, durchzogen nur von wenigen Schluchten und Talsenken. Ein karges Land - verbrannt und ausgedörrt, kalt und menschenfeindlich. Und doch wurde diese archaische Einöde, in der kaum Ziegen und Schafe Futter finden, zur Wiege Spaniens. Von hier aus regierten die Könige Karl V. und Philipp II. ein Weltreich, in dem die Sonne nicht unterging. Ströme von Beutegold und -silber flossen aus den spanischen Provinzen jenseits der Meere nach Kastilien und machten aus verarmten Edelleuten, den Hidalgos, reiche Feudalherren, die sich überall im Land Burgen und Schlösser bauten. Fast 10 000 sollen es gewesen sein, als 1492 die letzte maurische Bastion in Spanien fiel: Granada. Als Isabella I. und Ferdinand II. von Aragon, die "katholischen Könige", den spanischen Thron bestiegen und überall die Scheiterhaufen der Inquisition loderten. 2500 dieser Castillos sind bis heute erhalten geblieben, die dem Land seinen Namen gaben: Kastilien. Die mediterrane Leichtigkeit, die man gern mit Spanien verbindet - hier wird man sie vergeblich suchen. Der Reiz dieser kargen Landschaft liegt in ihrer Historie. In Avila zum Beispiel, einer mittelalterlichen Stadt am Fuß der Sierra de Guaderrama, die wie der zackenbewehrte Dinosaurier-Rücken als Gebirgskette im Norden der Meseta aufragt, fühlt sich der Besucher um Jahrhunderte zurückversetzt. Ein Historien-Event auf höchstem Niveau: Avila ist nicht nur die am höchsten gelegene Stadt Spaniens (1128 Meter), hier hat sich das Bild einer Stadt aus dem 14. Jahrhundert unverändert erhalten - mit Klöstern, Kathedralen und "manciones", den prächtigen Palästen kastilischer Adelsfamilien. Einer der schönsten wurde vor wenigen Jahren zum Luxushotel umgebaut: der "Palacio de Los Velada", ein komfortables Domizil, von dem aus sich Madrid (ca. 100 Kilometer entfernt) und alle Sehenswürdigkeiten Kastiliens bequem erkunden lassen. Avila, umschlossen von einer zwölf Meter hohen Mauer mit 88 Wachttürmen und neun Toren, ist die Stadt des Glaubens: Teresa von Avila (1515-1582), spanische Mystikerin und Gründerin des Ordens der Karmeliterinnen, soll hier eine Reihe wundersamer Taten vollbracht haben. Den Einwohnern ist die fromme Frau heute allerdings eher eine "süße Sünde" wert: "Yemas des Santa Teresa" schmücken die Auslagen aller Cafes und Confiserien und stehen in jedem Restaurant auf der Dessertkarte: ein Gebäck aus Eigelb und viel, viel Zucker. Deftiger geht es in Segovia zu: Die Stadt, etwa 70 Kilometer nordöstlich von Avila, hat es zu einem verrückten Spitznamen gebracht: Als "Stadt der Schweinerüssel" genießt sie bei Gourmets hohes Ansehen. Es gibt kaum ein Restaurant in Segovia, das nicht die knusprige Spezialität Kastiliens anbietet: Spanferkel. Die Sehenswürdigkeit Segovias, der Alcazar, thront wie eine spanische Ausgabe von Schloss Neuschwanstein auf einem Felssockel hoch über der Stadt. Und vor der monumentalen Kathedrale tummeln sich auf der Placa Mayor allabendlich Gaukler und Straßenkünstler, Musiker und Zauberer, Artisten und Puppenspieler. Segovia, das ist die kastilische Stadt der Lebensfreude, die Lust macht auf mehr.