Lviv, das frühere Lemberg, rückt zur Fußball-EM ins Rampenlicht. Schon am 9. Juni treten hier Jogis Jungs gegen die Nationalelf aus Portugal an.

Dornröschen wird gerade wach geküsst, doch kaum jemand nimmt davon Notiz. Hat sie zu lange geschlafen, sodass man sich kaum mehr an sie erinnert? War die stachelige Hecke, die sie gefangen hielt, zu undurchdringlich, sodass man sie mit all ihrer Eleganz und Pracht vergessen hat im Rest Europas? Doch vermutlich ist ganz gut, wie wenige wissen, dass sie immer noch die Schönste ist im ganzen Land - und dass sie sogar ihre wilde, junge Seite neu entdeckt. Denn so muss man ihr märchenhaftes Ambiente mit nur wenigen Verehrern teilen.

Geschichtsbücher besingen Lembergs Schönheit, man sollte vorbereitet sein. Doch liegt einem die Stadt ganz real zu Füßen, stockt der Atem trotzdem. Das liegt, so viel Ehrlichkeit muss leider sein, nicht nur am Panorama, sondern auch an den eigenen untrainierten Muskeln. Denn entweder geht es 409 Stufen hinauf auf den Rathausturm. Oder man erklimmt den Schlossberg, 130 Höhenmeter über Lemberg thronend, in dessen Wald das Echo unzähliger Heiratsanträge nachklingt. In Ermangelung der passenden Begleitung kann man sich, oben angekommen, auch in die Stadt selbst verlieben.

"Renaissance, Barock, Klassizismus, Historismus, Jugendstil und Art déco: Nicht im Krieg zerstört und auch danach nicht mit sowjetischer Tristesse verschandelt, ist Lemberg komplett erhalten geblieben", erzählt in perfektem Deutsch Olena Holyschewa, die Historikerin des Besucherbüros. Wer mit der Dame durch die Straßen tourt, bis die Füße schmerzen, muss sich auf einen Parforceritt durch die Geschichte einstellen. Später, wenn man die Stadt auf eigene Faust entdeckt, spürt man auch die Stimmungen der Gegenwart. Bei den Babuschkas auf dem Markt, wo Kopftücher und weite Röcke die Kleiderordnung bestimmen. Abends, wenn Pärchen auf dem Prospekt vor der Oper flanieren. Oder nachts, wenn man nach einem Besuch im bröckelnden Les-Kurbas-Theater, einst Kasino und Bordell, nicht nur die Straßenbahn durch die Gassen quietschen hört, sondern auch die Improvisationen des Saxofonisten aus dem Jazzclub.

"Das 20. Jahrhundert war in Galizien sehr turbulent: In 100 Jahren wechselten die Menschen ihre Staatsbürgerschaft sechsmal", sagt Olena Holyschewa. Lemberg gehörte einst zu Österreich-Ungarn und war nach Wien, Budapest und Prag die viertwichtigste Metropole der Habsburgermonarchie. 1918, zum Ende des Ersten Weltkriegs, wurde hier die Westukrainische Republik gegründet, doch bald danach übernahm Polen. Später kamen im Zweiten Weltkrieg Russlands Truppen, dann Hitlers Wehrmacht. Nach der Kapitulation geriet die Stadt wieder unter sowjetische Herrschaft. Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs ist Lemberg - inzwischen unter dem offiziellen Namen Lviv - Teil der unabhängigen Ukraine. Zwar zerstörten die Nazis die Synagoge, einst eine der prächtigsten in Europa. Doch sonst kamen die Gebäude ungeschoren davon. Mit viel Glück in den Weltkriegen - aber auch, weil Bürger später erfolgreich Widerstand leisteten, als die Sowjets das Zentrum planieren und Lemberg zu einer kommunistischen Musterstadt mit weiten Boulevards und monumentalem Lenin-Denkmal umbauen wollten.

+++Urkrainische Symphonie in Gold und Grün+++

750 Jahre Geschichte schimmern unter den abblätternden Fassaden: Eine überbordende Architektur-Pracht mit Türmchen, Arkaden und in Hinterhöfen versteckten Galerien. Es gibt auch die Gassen der Handwerker, wo man die Sprachen des halben Europa hören konnte: Armenisch, Deutsch, Jiddisch, Polnisch, Rumänisch, Russisch, Serbisch, Ukrainisch und Ungarisch. Lemberg (für die Deutschen) oder Lviv (für die Ukrainer) oder Lwów (für die Polen): Leopolis, die stolze Stadt im alten Galizien (es soll hier über 4000 Löwen-Figuren geben), hat 100 Kirchen zu bieten - und amüsiert sich in ebenso vielen Kaffeehäusern, Künstlerkellern und Kult-Kneipen.

Restauratoren schwärmen aus, um das Weltkulturerbe herauszuputzen, doch Lemberg ist kein Freilichtmuseum. 750 000 Einwohner, darunter 150 000 Studenten, bringen Leben in die Altstadt und sorgen an lauen Abenden für stetes Klappern auf dem Kopfsteinpflaster. "Europas unentdeckte Perle" sei Lemberg, sagen die Touristiker, ein "ungeschliffener Diamant". Natürlich schwingt da viel Lokalpatriotismus mit, doch mit Blick auf das nahe Krakau (die polnische Grenze ist nur 80 Kilometer entfernt) stimmt der Vergleich: Während an der Weichsel Billigflieger im Halbstundentakt einschweben, erwacht Lemberg, die letzte Stadt Europas vor der russischen Seite der Welt, erst aus seinem Dornröschenschlaf. Vor allem Tagestouristen aus anderen Städten der Ukraine tummeln sich hier - aus dem Westen kommen erst wenige Besucher.

Dabei gibt es hier mehr zu sehen als Steine. Die Karpaten sind nicht weit, und für frischen Wind in der Stadt sorgen Entrepreneurs wie Igor Sydor, den man auf einen Espresso und ein Stück Apfelstrudel im Kaffeehaus trifft. "Als im 17. Jahrhundert die Türken vor Wien standen, soll Georg Franz Kolschitzky, ein Händler aus der Gegend von Lemberg, die gegnerischen Truppen ausspioniert haben. Als Belohnung für seine Dienste wünschte er sich nach dem Sieg der Kaiserlichen die Säcke mit den Körnern, die im Türken-Depot lagerten", erzählt der 34-Jährige. So kam der Legende nach der erste Kaffee nach Wien - und später in Kolschitzkys alte Heimat. "Wir sind in dieser Hinsicht immer noch von den Österreichern geprägt: Geschäfte werden bei einem Kaffee abgewickelt, und am Sonntag geht man nach dem Kirchgang zusammen mit der Familie ins Café." Igor Sydor hat deswegen ein Kaffee-Festival ins Leben gerufen. Und weil das so erfolgreich ist, gibt es inzwischen auch ein Schokoladen-Festival. Und eines, bei dem sich alles um Käse und Wein dreht.

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Jenseits dieser Events sorgt ein anderer Tausendsassa dafür, dass Lemberg eine individuelle gastronomische Szene hat. "Eine Pizzeria eröffnen? Oder eine Sushi-Bar? Das ist austauschbar, das interessiert mich nicht", sagt Yuri Nazaruk. Am liebsten würde der junge Mann wieder mit dem Rucksack um die Welt reisen, doch leider hat er dafür jetzt keine Zeit mehr: Er entwickelt Themenrestaurants, die alle authentisch sind und verknüpft mit der Geschichte der Stadt. So kann man in der Loge der Freimaurer zu Abend essen und im Restaurant Zur goldenen Rose jüdische Spezialitäten probieren. Oder man kann sich im "Haus der Legenden" verirren, in dem jeder Raum anders dekoriert ist. Das Gewölbe unter der Oper hat Yuri Nazaruk für Auftritte von Lemberger Nachwuchsbands reserviert, die abrocken, während ein Stockwerk weiter oben Verdi aufgeführt wird. Und natürlich hat er sich auch etwas überlegt, um die Koffein-Sucht der Lemberger zu befriedigen. "Kaffee ist der Rohstoff, der uns antreibt", sagt er. "Wir haben ein Bergwerk eröffnet, in dem die Bohnen tief unter der Erde aus dem Gestein geschlagen werden."

Nur ein paar Schritte von den behelmten Kumpeln entfernt hat im ersten Stock des Rathauses Bürgermeister Andriy Sadovyj sein Büro. Drei Vorrundenspiele der Fußball-Europameisterschaft werden in Lemberg ausgetragen, Deutschland trifft hier auf Dänemark und Portugal. Das Stadion ist schon lange fertig, der neue Flughafen eröffnet: Wenn von Problemen bei der EM-Infrastruktur und von der Unterwanderung durch die Mafia die Rede war, dann betraf das die anderen Austragungsstädte der Ukraine, nie Lviv. "Wir haben uns hier eben sehr, sehr gründlich vorbereitet und mächtig angestrengt", sagt Andriy Sadovyj mit dem gewissen Lemberger Selbstbewusstsein. Nun soll ein großes Fußball-Fest steigen und die Stadt wieder bekannt machen in Europa. Andriy Sadovyj schmunzelt, er kennt das passende deutsche Wort: "Wir hoffen auf ein Sommermärchen."