Die Inkas verließen den Ort in Peru aus ungeklärten Gründen, vor 100 Jahren wurde die geheimnisvolle Stadt wiederentdeckt. Eine Reise zu einem Rätsel

Luft. Das ist alles, woran ich denken kann. Luft. Und dass der Flughafen-Angestellte doch keinen Scherz gemacht hatte, als er beim Blick auf die Tickets nach Cuzco sagte: "Ui, wieder welche, die nach Machu Picchu wollen. Stellt schon mal das Atmen ein." Wo ist jetzt die Sauerstoffflasche? Im Rucksack?

Die Höhenkrankheit erwischt sicher nur die anderen, dachte ich noch, daheim in Hamburg, zehn Meter über dem Meeresspiegel. Erst kommen die Kopfschmerzen, dann Herzrasen, am Ende fängt man angeblich an zu halluzinieren. Ob ich jetzt hier sterben muss? Zumindest wäre ich dem Himmel dann so nah wie nie zuvor ...

"Los jetzt. Noch ein paar Stufen, und wir sind da", sagt Walter Rodriguez. Reiseführer versprechen ja ständig und überall "Höhepunkte", hier in den Anden haben sie tatsächlich mal recht. Die Berge stehen irgendwie senkrecht, sind krassgrün anstatt wie andernorts über 2000 Meter grau oder schneebedeckt, und dann soll gleich dort hinter der letzten Kuppe, wo außer Wolken nichts mehr zu erwarten wäre, eine geheimnisvolle Stadt thronen. Machu Picchu. 216 Steingebäude und nur eine Frage: Wozu? Man geht davon aus, dass die Stadt um 1550 verlassen und gut 100 Jahre zuvor gebaut wurde. Aber niemand weiß, was Machu Picchu war. Eine Kultstätte? Eine Sommerresidenz der Inka-Könige? Das letzte Bollwerk auf der Flucht vor den Spaniern? Eine Art Uni für astrologische Phänomene?

Das Geheimnis zieht jeden Tag ungefähr 2000 Menschen aus der ganzen Welt hierher. "Seit sieben Jahren träume ich davon, diesen mystischen Ort zu sehen", sagt Ruth Nather. Die Wienerin ist mit ihrem Mann und ihrem Sohn unterwegs. Wie alle anderen Reisenden zeigt ihr Gesicht die seltsame Mischung aus Erschöpfung und Spannung. "Ich kann mir kaum vorstellen, dass wir endlich angekommen sind."

Landestypische Delikatessen sind Meerschweinchen und Coca-Blätter

Machu Picchu erfordert eine lange, anstrengende Anreise. Von Lima aus fliegt man zunächst nach Cuzco. Die Landebahn dort ist die wahrscheinlich höflichste der Welt: Sie kommt dem Flieger entgegen und empfängt ihn auf 3400 Meter Höhe. Cuzco nannte man früher den "Nabel der Welt". Sie war Hauptstadt eines riesigen Inka-Reiches, das von Ecuador bis nach Chile reichte. Durch seinen Reichtum konnte sie sich Paläste leisten, die mit Gold und Silber überzogen waren, und den Hauptplatz umspannte eine 250 Meter lange Goldkette. Die Strahlkraft der Metropole muss die Sonne damals vor Neid erblassen lassen haben.

Heute stehen vor allem Kirchen rund um die Plaza de Armas, denn die Spanier machten kurzen Prozess mit den zu schönen Gebäuden oder setzten ihre eigenen Bauten auf die stabilen Inka-Mauern. Das sieht seltsam zusammengewürfelt aus, genauso wie die Touristengruppen, die sich hier zur Akklimatisierung versammeln. Amerikaner, Argentinier, Franzosen, Japaner und Deutsche schleppen sich über das Kopfsteinpflaster, trinken gelbe Inca-Cola und kaufen "Oxyshot"-Flaschen gegen den Sauerstoffmangel. Respekt für jeden Panflötenspieler, der hier noch in die Pfeife pustet. "Jetzt verstehe ich, warum sie lieber in deutschen Fußgängerzonen auftreten als in der eigenen Heimat", sagt ein Mitreisender, der zuvor bereits stolz verkündet hatte, Meerschweinchen gegessen zu haben - das Lieblingsgericht der Einheimischen. 65 Millionen Nager werden jedes Jahr in Peru verzehrt.

Die landestypische Kleidung, den Poncho, entdecken wir selten. Das modische Must-have der peruanischen Hochebene ist stattdessen das Regencape. Zumindest die Form (Dreieck mit Loch drin) konnte so also gewahrt werden. Es gibt sie in Grün oder Rot, und wer zunächst dachte, dem Einheitslook widersprechen zu müssen, trägt spätestens nach dem ersten Sintflut-Regenguss wie alle anderen auch Plastikplane.

Nach dem eintägigen Aufenthalt im Basislager Cuzco geht es zunächst mit dem Bus oder dem Taxi nach Ollantaytambo. Früher fuhr ein Zug direkt von Cuzco, aber bei der Überschwemmung im Januar 2010 wurden Teile der Strecke zerstört und Machu Picchu für zwei Monate gesperrt. "Der Fluss hat viele Einnahmen mit weggeschwemmt", erklärt Walter Rodriguez in einer der acht Sprachen, die der 51-Jährige beherrscht, und weist seine Reisegruppe an, die nächste Ebene auf dem Weg zur rätselhaften Inka-Stadt zu betreten, den Zug nach Aguas Calientes. Die eineinhalbstündige Fahrt führt entlang des soeben gescholtenen Rio Urubamba, der bräunlich durchs Tal zieht und schäumt wie zorniger Kakao.

300 in den Fels gehauene Terrassen und Paläste vor einer Fototapete

Wer ganz verrückt ist, kann die Strecke auch in vier Tagen zu Fuß bewältigen. Auf dem "Camino Inca", dem alten Inka-Trail, wandert man in Gruppen mit autorisierten Führern, Trägern und (in der Edelvariante) Köchen auf den Spuren der Ureinwohner Südamerikas über schlammige Trampelpfade immer hübsch bergauf und schläft in Zelten, die Sherpas mit sich schleppen. Im Februar ist der Weg gesperrt, dann wird der Müll aufgesammelt, den die Naturfreunde vergessen haben.

Das letzte Transportmittel der Anreise ist ein Kleinbus, der uns von Aguas Calientes aus die letzten Serpentinen hochbringt nach Machu Picchu. Der Fahrer scheint entweder seinen Job oder sein Leben nicht zu mögen. Dem Meerschweinchen-Esser wird schlecht; Walter sagt, wir sollen noch mehr Coca-Blättern kauen: "Die helfen gegen alles." Schmecken aber scheußlich. Besser sind die Coca-Cookies, die angeblich auch das Abnehmen fördern. Wie Keks und Diät zusammenpassen, lässt sich hier und heute nicht ergründen, vor uns liegt ein viel größeres Rätsel. "Willkommen auf einem der neuen sieben Weltwunder", sagt der Kartenabreißer. Zwei Japaner fangen vor Rührung an zu weinen. Ihre Tränen mischen sich mit dem Regen. Schlechtes Wetter gehört unbedingt dazu, ansonsten ist es nicht authentisch. 270 Regentage im Jahr, wer da mit einem Sonnenfoto zurückkehrt, macht sich gleich verdächtig. Wir knipsen alle Abstufungen zwischen viel und noch mehr Nebel, bis sich plötzlich, sehr kurz, der Himmel auftut, als wolle er einen Scheinwerfer richten auf das, was da vor uns liegt: das größte Fragezeichen Perus. Die bekanntesten Ruinen Südamerikas. Eines der höchsten Ziele für Suchende. Als ich all das erkenne, bleibt mir gleich noch mal die Luft weg.

Bis auf die Strohdächer ist die Stadt komplett erhalten. Virtuose, teils zweistöckige Bauwerke, die jedem Erdbeben standhalten, obwohl sie nie gemörtelt wurden. "Mein Gott, wie akkurat. Zwischen die Steinquader passt ja keine Messerspitze. Wie haben sie das gemacht?", wundert sich ein Architekt aus Großbritannien. Wir überblicken 3000 Stufen, 300 in den Fels gehauene Terrassen, Tempel- und Palastgebäude, die exakt nach der Umlaufbahn der Sonne ausgerichtet wurden. Dazu ein Panorama wie auf einer Fototapete, die meine Eltern in den 70ern wunderschön fanden. Auf einer Mauer sitzen vier Frauen und summen mit geschlossenen Augen eine Art Mantra. "Viele kommen hierher auf der Suche nach Erleuchtung", erklärt Walter. So nah an der Sonne könnten die Chancen besser stehen als im norddeutschen Küstennebel. Wir setzen lieber auf Regentanz. Den Schirm in der Hand, wird jeder Pfütze großzügig ausgewichen und manche rutschige Stufe übersprungen, um nicht plötzlich eine Terrasse tiefer zu landen.

Was war Machu Picchu? Ein Dschungel an Theorien liegt über der Wahrheit

Machu Picchu bedeutet "alter Gipfel" auf Quechua, der alten Inka-Sprache. Die Ruinen galten lange Zeit als verloren, bis eine Art Ur-Indiana-Jones 1911 zu einer Expedition aufbrach. Der amerikanische Geschichtsprofessor Hiram Bingham durchstöberte die Bergtäler Perus auf der Suche nach etwas Besonderem. Die Höhenkrankheit ließ ihn sich "ziemlich elend" fühlen. Aber gleichzeitig war er fasziniert von der Natur, den Gipfeln und Abgründen der Urubamba-Schlucht: "Ich kenne keinen Ort auf der Welt, der sich mit ihr messen könnte." Ein Indio-Junge führte Bingham schließlich am 24. Juli zu den überwucherten Ruinen. "Würde irgendjemand glauben, was ich gefunden habe?", notierte der überwältigte Archäologe in sein Tagebuch. Er ließ die Stadt in den Wolken freilegen, vermaß und katalogisierte seine Entdeckung und verschiffte Tausende von Funden nach Yale, um dort weiter an ihnen zu forschen. Heute fordert Peru diese Schätze zurück. "100 Jahre sind die Exponate jetzt schon dort", sagt Walter und lacht. "Die Forscher in Yale scheinen nicht die schnellsten zu sein."

Seit 1983 steht Machu Picchu auf der Liste des Unesco-Welterbes, und zwar als eine der wenigen Stätten als Kultur- wie auch Naturdenkmal. Die Lage bot Sicherheit vor den Feinden, weshalb manche Forscher behaupten, dass Machu Picchu als Festung gebaut wurde, um die hier lebenden Völker leichter zu unterwerfen. Andere glauben, dass die Bewohner von Machu Picchu gegen den Herrscher in Cuzco rebellierten und dafür allesamt getötet wurden. Ein Dschungel an Theorien liegt über der Wahrheit, weshalb jeder Reisende seine eigene These aufstellen kann. "Es war eine Art religiöses Mekka für die Inka", glaubt der 20-jährige Österreicher Daniel. "Eine ganz besondere Grabstätte, so wie Stonehenge", findet ein Engländer. "Der Altersruhesitz für den ehemaligen Inka-König Wiraqucha", sagt Walter. "Ein Ort, den die Inka bauten, nur um den Göttern ganz nah zu sein", meint Regina Machleidt aus Gera. "Für mich ist Machu Picchu ein Energiepunkt, eine absolute Kraftquelle", sagt die Wienerin Ruth Nather, aus deren Gesicht nach der Besichtigung tatsächlich jede Erschöpfung gewichen scheint. Und für mich war es eine Herausforderung in Demut.

Am Ende sind alles Spekulationen, denn die Inka hatten keine Schrift, hinterließen keine Aufzeichnungen, und die Archäologen konnten bislang nur marginale Erkenntnisse ausgraben. Wenn Legenden und Logik aufeinandertreffen, gewinnt am Ende auf jeden Fall die Fantasie. Machu Picchu bleibt ein akkurat aus Granitstein gehauenes Geheimnis.

Video: Machu Picchu - Die Stadt in den Wolken