Bank-Geheimnisse: Wir treffen Stormarner auf ihrer Lieblingsbank Heute: Heinrich Thies, der Platt salonfähig macht

Gut Platt zu sprechen ist eine Sache. Kenntnis der niederdeutschen Literatur und Kultur eine andere. Netzwerkarbeit und Gremienerfahrung dagegen zählen eher nicht zu den Schlüsselqualifikationen eines Enthusiasten der plattdeutschen Sprache. Zu Unrecht. Denn ohne sie wäre das Engagement wohl eine Liebe ohne größere Folgen: im kleinen Kreis der Muttersprachler gepflegt, mit viel Herz und vielleicht etwas Gemütlichkeit, aber ohne Zukunftsperspektive, denn Sprachnachwuchs ist damit schlecht zu gewinnen.

Heinrich Thies, 76, ist ein idealer Botschafter des Plattdeutschen, nicht zuletzt weil er ein politischer Kopf ist, viel von Netzwerkarbeit versteht und reichlich Gremienerfahrung hat. Der Mann, der seit 1970 in Glinde lebt, hat nämlich großen Anteil daran, dass das Niederdeutsche 1992 als schutz- und förderungswürdig in die schleswig-holsteinische Verfassung und 1999 in die „Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen“ aufgenommen wurde sowie seit diesem Schuljahr ein festes Unterrichtsfach an 27 Grundschulen im Lande ist. Für seine Verdienste wurde Thies mehrfach ausgezeichnet, im Juni dieses Jahres sogar mit dem Bundesverdienstkreuz. Nimmt man die Ergebnisse, könnte der Eindruck entstehen, dass sein ganzes Leben einer inneren Logik zu folgen scheint und der niederdeutschen Sprache und Kultur nützt.

Aufgewachsen ist Heinrich Thies in einer Arbeitersiedlung in Westerrönfeld am Nord-Ostsee-Kanal, gegenüber von Rendsburg. In seinem Umfeld sprach er Platt. Als er aufs Gymnasium wechselte, bewegte Thies sich in einer Welt, in der Hochdeutsch geredet wurde. Regionalsprachliche Wurzeln spielten in der Schule kaum noch eine Rolle. „Und es kam auch vor, dass ein bisschen Druck ausgeübt wurde. Es gab Eltern, die den Rat bekamen, nicht Platt mit ihren Kindern zu schnacken, damit die es leichter im Leben hätten“, sagt Thies.

Kurzgeschichten von Rudolf Kinau waren ein Schlüsselerlebnis für Thies

Er wollte etwas studieren, womit er anderen helfen könnte, entschied sich für Jura und engagierte sich politisch. Ausschlaggebend waren soziale Programme wie die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, um die es in Schleswig-Holstein einen langen Streik gab. Thies hatte erlebt, dass sein Vater, der als Heizer arbeitete, lange krank war und von der Krankenkasse „ausgesteuert“ wurde. Nach seinem Studium arbeitete Heinrich Thies für den Deutschen Gewerkschaftsbund, später für die Neue Heimat, die Gemeinnützige Wohnungsgesellschaft (GWG) und freiberuflich als Personalwirtschaftlicher Berater.

Was das alles mit Platt zu tun hat? Eine Menge, obwohl selbst Thies einen Moment lang nachdenken muss, um die entscheidenden Begriffe ins Niederdeutsche zu übersetzen – dass er „en polietschen Kopp“ ist, der „Arbeit in Nettwarken“ pflegt und „strateegsch Denken“ beherrscht. Die Erfahrungen aus seinem Berufsleben kamen seiner eigentlichen Leidenschaft zugute.

Schon während seines Studiums hatte Thies ein Erweckungserlebnis, als er einen Band mit Kurzgeschichten von Rudolf Kinau entdeckte und begeistert las: „Das hat mir die Augen geöffnet. Vom Plattdeutschen hatte es oft geheißen, es sei untauglich, grob und habe nicht einmal eine richtige Grammatik – bei der Lektüre sah ich das Gegenteil, nämlich einen anspruchsvollen literarischen Text.“ Er begann, die neu entflammte Leidenschaft für die Muttersprache zu pflegen und las Autoren wie Klaus Groth, Fritz Reuter und Johann Hinrich Fehrs sowie einen alten Text, der den Sprachfreund und den politisch denkenden Menschen gleichermaßen begeisterte. „Reynke de Vos“, das um: 1500 in Lübeck gedruckte niederdeutsche Epos um Reineke Fuchs, das durch Goethes fast 300 Jahre später entstandene Fassung bis heute bekannt ist.

Für Thies ist die Geschichte um den Fuchs, der dank seiner Verschlagenheit den Kopf immer wieder aus der Schlinge zieht und sogar Karriere macht, ein Augenöffner par excellence. „Leider ist es nicht immer einfach, seinen Mitmenschen die Brisanz des Stoffes und die feine Sprache nahezubringen, weil sie den ‚Reineke‘ aus Unkenntnis für eine harmlose Tierfabel, für ein Kinderbuch halten“, sagt Thies. „Dabei lässt sich mit dem ‚Reineke‘ bestens zeigen, dass Niederdeutsch nicht nur eine Alltagssprache für Döntjes ist, sondern viel, viel mehr.“

Ein Schelm, wer annimmt, dass alles, was dann kam, einem raffiniert angelegten Plan folgte. Thies war 1982 Ideengeber und Mitgründer des Glinder Heimatvereins, um zu bewahren, was verlorenzugehen drohte. Er nutzte den Verein auch, um mit Lesungen und Ausstellungen für die plattdeutsche Sprache zu werben. Glinde war zeitweilig so etwas wie eine politische Zelle, die große Ideen auf den Weg brachte. 1992 begann Thies mit seinen Freunden von hier aus, 18.000 Unterschriften für die Aufnahme des Niederdeutschen in die Landesverfassung, in die Europäische Sprachencharta und als Wahlfach in Schulen zu sammeln. Auch hier half ein geschickter Schachzug: Thies gewann die Landfrauen, die mehr als die Hälfte der Unterzeichner zusammenbrachten

Internetsurfer hat Thies mit Nettkieker übersetzt

Bald darauf berief ihn der Schleswig-Holsteinische Heimatbund in seinen Ausschuss für Niederdeutsch und Friesisch. Für seine nächsten Ziele ließ sich Thies 1997 zum Vorsitzenden der Fehrs-Gilde wählen. Er erweiterte deren Aufgabenbereich Literatur um die Sprachpflege und Sprachpolitik. Thies weiß, dass Plattdeutsch nur dann eine Zukunft hat, wenn junge Menschen dafür gewonnen werden. Das setzt zeitgemäße Unterrichtsformen und das entsprechende Handwerkszeug voraus. Deshalb hat er, ausgehend von dem plattdeutschen Wörterbuch von Johannes Sass, zwei eigene, modernisierte Wörterbücher und eine leicht zu handhabende Grammatik geschrieben. Thies orientierte sich bei der Wortauswahl und Gestaltung auch an modernen Wörterbüchern, setzte auf die einheitliche Rechtschreibung nach Sass. Er bildete als Neologismen Wörter wie Klappreekner für Laptop, Kiekprogramm für Browser, Nettkieker für Surfer, Schiensmieter für Scheinwerfer oder Bedriefsverdrag für Betriebsvereinbarung. Die Grammatik gibt es auch kostenlos online, ein kostenloses Wörterbuch soll in etwa einem Jahr frei ins Netz gestellt werden.

Besonders ermutigend findet Thies, wie rasch sich Kinder mit plattdeutscher Sprache vertraut machen. Das Ergebnis zeigt sich bei den jährlichen Vorlesewettbewerben. Auch dort fällt auf, wie gut viele Kinder mit Migrationshintergrund Platt zu sprechen lernen. „Es zeigt sich, dass die sprachlich oft weniger auf eine Tonlage festgelegt sind, deshalb gut hören und Vorgaben beim Sprechen gut umsetzen können.“

Er selbst spricht zu Hause Platt, seine Frau Hochdeutsch. Sein tägliches Pensum von vier Stunden Arbeit für die niederdeutsche Sprache verlegt er meist in die späten Abendstunden, damit viel gemeinsame Zeit bleibt.

Als politischer Kopf denkt Thies weit über das hinaus, was er geleistet hat: „Wir haben momentan eine Regierung, die bereit ist, neben Dänisch und Friesisch das Plattdeutsche zu fördern. Diese Chance müssen wir nutzen.“ Dabei möchte er vieles gesetzlich festgeschrieben sehen: „Stellen Sie sich vor, Schleswig-Holstein bekäme einen Ministerpräsidenten, der aus Baden-Württemberg stammt. Dann wäre es gut, die Förderung unserer Regionalsprache rechtlich verankert zu haben.“