Sie ist 93, er 92 Jahre alt. Anni und Fritz Melchert aus Bargteheide sind seit 70 Jahren verheiratet. Ein Bekenntnis zu Treue und Verantwortung.

Bargteheide. Gnade. Ein Begriff wie aus grauen Vorzeiten. Die Augen von Anni und Fritz Melchert aus Bargteheide sind aber noch ganz blank und wach, die Wangen leicht gerötet, die Stimmen munter. Ob das die Liebe macht? Sie ist 93, er 92. "Gnade? Gnädig? Ich weiß nicht. Ich kann damit nicht viel anfangen", sagt Anni geradeaus und mit leichtem Berliner Akzent. Ihr Fritz hilft aus, wie so oft in den 70 Jahren seit ihrem Treuegelöbnis. "Es ist ein Geschenk. Wir sind noch fit und noch immer zusammen. Wir haben Glück gehabt." Am heutigen Freitag feiert das Paar Gnadenhochzeit.

"Danach kommt nichts mehr. Dann ist Schluss", sagt der alte Herr und lacht. Seine Annie schaut ihn an und am liebsten würde sie wohl sagen: "Ach, Fritz." Aber dann muss auch sie lachen. Humor scheint dem Glück gut bekommen zu sein. Als es begann, war eher Improvisationstalent gefragt. Während ihr Fritz "alternativlos" in Uniform vor den Traualtar der Dorfkirche in Tempelberg/Brandenburg trat, lautete die bange Frage für seine Anni: "Was ziehe ich an?" Nicht leicht zu beantworten, im Kriegsjahr 1943. Das Kleid der Schwägerin rettete die Zeremonie. "Aber die war kleiner als ich", sagt die Bargteheiderin und betrachtet das Bild vergangener Tage.

Da steht die junge Anni mit Schleier und Rosen und mit einem zu kurzen Kleid, das ihre Schuhe freigibt. "Und weiß waren die auch nicht. Ich habe sie ordentlich mit Kreide eingerieben."

Für das Organisieren des Festessens war ihr Fritz zuständig - gelernter Elektriker und damals Nachrichtenunteroffizier mit Sinn fürs Praktische. Zum Schluss gab es dann doch den damals üblichen Karpfen in Biersoße. "Und der Bäcker schickte uns auch noch was", sagt der 92-Jährige, der von all dem erzählt, als wäre es gestern gewesen und nicht vor einer kleinen Ewigkeit. Er weiß auch noch, dass die Sache mit dem Blumenschmuck für die Braut schwierig war. Und dass der vorgesehene Pastor nicht kommen konnte. "Also kam ein anderer. Der warf sich den Talar über die Uniform. Und los ging's." Das Paar erinnert sich gern daran. Wehmut schwingt mit, immer noch Freude, aber auch ein bescheidener Stolz. "Hat alles geklappt", sagt Fritz Melchert.

So war das damals. "Wir wollten ja auch ewig zusammenleben", sagt Anni Melchert. "Heute nimmt man sich gleich den nächsten. Die Zeiten waren gesittet. Jedenfalls bei uns", fügt die Jubilarin mit Augenzwinkern hinzu. Und das Rezept? "Na, wir haben uns respektiert. Und das Vertrauen ist wichtig", sagt sie. "Genau. Vertrauen", sagt er. "Wir haben auch immer alles gemeinsam entschieden", sagt sie. "Wir ergänzen uns. Ich kann nicht mehr so gut sehen und brauche eine Lesegerät. Aber sie liest mir auch vor", sagt er. Gab es denn nie Streit? "Ne, alles in Butter", sagt die alte Dame. "Wir halten auch noch Händchen", sagt er. "Wenn wir nicht gerade den Rollator brauchen", sagt sie und lacht wieder.

Als sie sich kennenlernten, wussten sie nichts von Gehhilfen. Es war bei einem Tanzvergnügen. "Der zweite Weihnachtsabend 1939", sagt Fritz Melchert. "Da waren so viele andere in Uniform um ihn herum. Dass wir zusammengekommen sind", sagt die Jubilarin und kann es selbst kaum fassen, dass sie schon ich ganzes Leben gemeinsam gegangen sind. Leicht war es nicht.

Der Krieg trennte die beiden. Fritz Melchert kam als Funkmeister in amerikanische Gefangenschaft. Erst im Juni 1945 fand sich das Paar wieder und kam zunächst bei der Verwandtschaft in Niedersachsen unter. Fritz Melchert fand eine Anstellung als Betriebselektriker. Seine Anni, die eine Hauswirtschaftslehre absolviert hatte und auf dem Gut Tempelberg des Grafen Hardenberg beschäftigt gewesen war, arbeitete bei der britischen Militärverwaltung. So konnte das junge Paar in einer Zeit von Hunger die persönliche Versorgung mit Lebensmitteln aufbessern.

Die Ungewissheit während des Krieges muss groß gewesen sein. Und die Sorge. "Ach nein", sagt Anni Melchert ganz ruhig. "Ich wusste, dass er zurückkommen würde." Gnade? Gottvertrauen? Fritz Melchert: "Ich war im damaligen Leningrad stationiert. Viele Briefe gingen hin und her. Als Funker waren wir zwar hinter der Front. Aber auch hier fielen Kameraden." Der entscheidende Unterschied sei ein anderer gewesen. "Ich lag nicht im Schützengraben und musste schießen, wenn auf der anderen Seite ein Kopf auftauchte."

Die Wirren sind vorbei und auch die Jahre des Aufbaus, in der Fritz Melchert auf Versicherungskaufmann umschulte und sich zum Bezirksdirektor hocharbeitete, während Anni Melchert als Verkäuferin beschäftigt war. Sie haben das Beste aus der Situation gemacht - so wie jetzt in der Seniorenwohnanlage. Die junge Frau vom Pflegedienst bringt die Tabletten. "Na ja, von irgendetwas muss man ja satt werden", lautet der Kommentar des alten Herren.

Gnade? Dankbarkeit? Die beiden sind viel gereist und gewandert. "Wir waren auch in zwei Kegelvereinen. Und ich habe im Chor gesungen", sagt der 92-Jährige, der ein begehrter Tenor war. All das ist vorbei.

Heute zählt das kleine Glück des Alltags. "Mein Mann macht das Frühstück. Es gibt Kaffee, Brötchen und Marmelade. Wenn alles fertig ist, ruft er mich. Dann steh ich auf", sagt Anni Melchert. "Früher hat meine Frau das gemacht. Jetzt verwöhne ich sie", sagt er.

Später wird eingekauft, im Gemeinschaftsrestaurant Mittag gegessen und dann ein bisschen gedöst. "Im Sommer auf der Loggia", sagt der Jubilar und zeigt auf zwei Klappstühle auf dem Balkon. Auf dem Tisch daneben ein Topf mit gelben und roten Petunien. Ein Gartenidyll auf kleinstem Raum. Am Nachmittag gehen die beiden spazieren. Hand in Hand. Ein ruhiger Fluss. Nein. "Sie glauben gar nicht, wie schnell die Tage vergehen", sagt der 92-Jährige.

Tochter Sieglinde, Jahrgang 1950, und Schwiegersohn Bernhard haben für heute ein Fest im engsten Kreis organisiert. Auch die beiden Enkeltöchter, 30 und 27 Jahre, sind dabei. "Als sie aufwuchsen, lebte das Paar in Garbsen. "2009 sind wir nach Bargteheide gezogen. Zu den Kindern. Jetzt haben wir wieder ein richtiges Familienleben. Das genießen wir", sagt Fritz Melchert. Seine Frau freut sich schon auf die "Mädchen". "Die sagen zu mir immer: Na, kleine Omi." Was war bisher das wichtigste Erlebnis in ihrem Leben? Der Krieg. Die Wiedervereinigung. Die Geburt der Tochter, der Enkelinnen. Dann schauen sich die beiden an. Die Blicke sagen mehr als alle Worte: Das Größte in ihrem Leben ist die Liebe.