Von großen Hoffnungen und großen Enttäuschungen: In den 90er-Jahren kamen die ersten jugendlichen Aussiedler in die Schlossstadt. Viele betäubten ihren Frust mit Alkohol und Drogen, brachten einen ganzen Stadtteil in Verruf. Heute sind die meisten von ihnen etabliert. Abendblatt-Reporter Michael Degenhard hat sich in dem Quartier umgesehen.

Wir waren jung, dumm - und meist besoffen." Wenn Sascha über seine ersten Jahre in Deutschland, in Ahrensburg, im Stadtteil Gartenholz spricht, dann fällt ihm viel mehr nicht ein. Zwölf Jahre liegt seine Ankunft zurück, er ist 14 Jahre alt gewesen. Ein 14-Jähriger, der innerhalb kürzester Zeit beinahe in die ganz harte Drogenszene abgerutscht ist. "Hardcore-Kiffer" hat man Jugendliche wie ihn genannt, die jeden Tag zugedröhnt gewesen sind. Heute ist Sascha 26. Er hat er ein Kind. Er arbeitet. Und er unterscheidet sich damit nicht von den meisten anderen der damaligen Aussiedler aus Russland, die dem Stadtteil im Norden Ahrensburgs ein unschönes Gesicht gegeben haben. Damals, Ende der 90er-Jahre.

Die Sozialpädagogin Marion Greßler vom Gemeinschaftshaus, dem sogenannten G-Haus, hat die Entwicklung im Stadtteil hautnah miterlebt. "Es ist ruhiger geworden", sagt sie. Viel ruhiger als Ende der 90er-Jahre. Damals war das "G-Haus" die Anlaufstelle für jugendliche Aussiedler, von denen viele ihre Enttäuschung mit Alkohol herunterspülten und ihren Frust mit Drogen betäubten. Ein Ort, an dem sie ein bisschen Halt in der Fremde fanden.

Sozialpädagogin Greßler erinnert sich: "Die Aussiedler hatten damals eine ganz andere Hemmschwelle. Sie testeten in sechs Wochen alles durch." Sascha pflichtet ihr bei: "An einem Tag kifften wir und am nächsten probierten wir gleich etwas anderes aus." Alkohol floss immer.

Die Sozialpädagogen im Jugendzentrum hatten mit diesen Jugendlichen alle Hände voll zu tun. "Es kamen etwa 60 bis 90 Aussiedler am Tag zu uns ins G-Haus. Damals waren nur etwa zehn Prozent der Besucher keine Aussiedler", sagt Marion Greßler. Einige der sogenannten Deutschrussen waren durch ihren heftigen Drogenkonsum innerhalb kürzester Zeit für die Pädagogen nicht mehr erreichbar. Sie waren weg, bevor sie richtig in Deutschland angekommen waren. Wohin sie wohl gingen? Marion Greßler zuckt mit den Schultern. "Von einigen weiß ich gar nicht, ob sie überhaupt noch leben."

Immer wieder redeten die Sozialpädagogen auf die Jugendlichen ein, stritten mit Nachbarn des Jugendzentrums über Lärmbelästigung durch gröhlende Jugendgruppen. Der Job forderte alles von ihnen ab. Unter deutschen Jugendlichen hatte das G-Haus damals keinen guten Ruf. Es wurde von vielen gemieden. Mittlerweile hat sich das geändert. Es kommen auch wieder Deutsche ohne Migrationshintergrund.

Drogenkonsum war das eine Problem. Beschaffungskriminalität ein weiteres. Ende der 90er-Jahre hatte die Zahl der sogenannten Abziehdelikte - also Raub von Kleidung oder Zigaretten - in Ahrensburg ein besorgniserregendes Niveau erreicht. Die Polizei richtete eine spezielle Ermittlungsgruppe ein. Sie ging später in der AG-Jugendkriminalität auf, in der Kripobeamte und Schutzpolizisten gemeinsam ermittelten. "Wir hatten viele Autoradiodiebstähle. Die Geräte wurden reihenweise aus den Wagen rausgeholt", sagt Ahrensburgs Kripo-Chef Wolfgang Böhrs. Ob das in direktem Zusammenhang mit den Aussiedlern stand, ließ sich nicht belegen, da die meisten Aussiedler bereits nach kurzer Zeit eingebürgert wurden und damit aus der Rubrik "Ausländer" in der Statistik verschwunden waren. Böhrs sagt: "Wenn man aber auf den Geburtsort sah, waren schon Aussiedler dabei." Nach Angaben der Ahrensburger Verwaltung sind der Stadt in den Jahren 1990 bis 2003 genau 1143 Aussiedler "zugewiesen" worden, wie es im Verwaltungsdeutsch heißt. In den folgenden Jahren kamen immer weniger. 2004 waren es 24, zwei Jahre später sieben und in diesem Jahr sogar nur noch zwei Personen.

Sozialpädagoge Andreas Bischoff erinnert sich an die schwierigen Jahre: "Die Sozialisation der ersten Aussiedler war eine ganz besonders schwierige Angelegenheit. Sie brachten ein großes Misstrauen gegen den Staat mit. Die Polizei in Russland war korrupt, in der Schule mussten sie nur gehorchen."

Vitali (25) weiß noch genau, wie sich das angefühlt hat: "Dann kommst du hierher und wirst nicht akzeptiert. Ist doch klar, dass da einige durchdrehen und Scheiße bauen." Die Ältesten seien die Schlimmsten gewesen. "Die Jüngeren wurden immer ruhiger", sagt Andrej (27). Wie er, sind viele andere durch eine harte Erziehung im Elternhaus gegangen. "Wir erziehen unsere Kinder aber auch ganz anders. Nicht so hart, wie wir damals erzogen worden sind", sagt Andrej. Einige Kinder der nächsten Generation gehen heute ins G-Haus. Anders als einst ihre Eltern, verhalten sie sich dort vollkommen unauffällig.

War das Gemeinschaftshaus denn wichtig für die damaligen Aussiedler? Sergej sagt: "Die Leute im G-Haus haben uns immer geholfen. Wir wurden hier richtig getriezt, was aus unserem Leben zu machen." Das war für viele tatsächlich der Impuls, auch mal etwas anderes zu machen als nur zu kiffen oder zu trinken, selbst wenn die erlebte Enttäuschung noch so groß gewesen war. Denn viele waren mit ganz anderen Vorstellungen nach Deutschland gekommen. Sergej sagt: "Meine Mutter hatte gemeint, dass hier alles viel sauberer wäre als in Russland. Den ganzen Flug über freute ich mich auf das saubere Land. Am Flughafen aber kam ich raus und war enttäuscht. So sauber ist es hier auch nicht." Träume zerplatzen schnell. Und Deutsch sprechen konnte Sergej bei seiner Einreise auch nicht.

Andrej hatte es da auf den ersten Blick erheblich einfacher. Er konnte vor der Umsiedelung nur Deutsch sprechen. Russisch hatte er nur kurz in der Schule gelernt. Er sagt: "Der Deutschtest war schnell erledigt." Er bekam schnell das Kreuz auf dem Formular. Bestanden. Kurz darauf wurde er auch auf dem Papier Deutscher. Probleme hatte Andrej trotzdem. Die Aussiedlerkinder waren in der ersten Zeit größtenteils unter sich und unterhielten sich eigentlich nur auf Russisch miteinander. Um sich mit seinen Freunden unterhalten zu können, musste er also in Deutschland Russisch lernen. "Hier bist du also Russe - drüben Deutscher", sagt der blonde Andrej, der gerade vor ein paar Wochen mal wieder in Sibirien war und sich da allerlei Sprüche gefallen lassen musste "In der Heimat sind wir die Nazis, die die Juden ermordet haben. Und hier werden wir Russen wegen unserer Herkunft manchmal nicht mal in die Discos gelassen."

Erst neulich wurde am Eingang zu einer Diskothek in Trittau sein Ausweis kontrolliert. Der Türsteher guckte auf den Geburtsort und fragte: "Alexandrowka , wo ist das denn?" Andrej sagte etwas von Süddeutschland und kam ohne Probleme rein. Sein Kumpel Anton stand ein paar Meter hinter ihm in der Schlange und wurde im selben Ort geboren. Er antwortete "Russland". Da hieß es auf einmal, dass die Veranstaltung eine "geschlossene Gesellschaft" sei. Er musste draußen bleiben. Er nimmt es locker und sagt: "Wir sind nie irgendwo akzeptiert." Wolgadeutsche, Kasachen, Kirgisen, Usbeken und Ukrainer - sie alle wurden häufig nur als "Deutschrussen" bezeichnet. Sie alle tragen zwei Nationen in ihren Herzen. Und was machen sie heute? Sie arbeiten. Fast alle haben Arbeit. Im Restaurant. Als Handwerker. Sie helfen hier, sie helfen da. Oder sie machen eine Ausbildung. Doch nur wenige von ihnen haben mehr als einen Hauptschulabschluss in der Tasche, ungeachtet ihres Potenzials. Die Verlockung, gleich zu arbeiten und sich eine eigene Wohnung leisten zu können, ein eigenes Auto zu haben, eine eigenen Familie ernähren zu können, ist größer gewesen. Geld verdienen: Diese Verlockung ist schließlich größer gewesen als alles andere. Geld. "In Russland kannte ich kein Geld, wir hatten ja auch keins. Erst in Deutschland lernte ich, was Geld ist", sagt Juri.

Sie sind nicht unzufrieden. Und doch sagt Sascha: "Heute würde ich länger zur Schule gehen und vielleicht sogar studieren." So, wie jetzt "die Kleinen", die, die später gekommen sind. Dann sagt er: "Und ich würde weniger Scheiße bauen."

Die Namen der ehemaligen Aussiedler wurden von der Redaktion geändert