Elf Prozent mehr Verfahren als vor einem Jahr, obwohl Firmen jetzt bei Entlassungen häufiger mit Sozialplänen arbeiten.

Ahrensburg. Die Zahl der Kündigungsschutzklagen, die auf den Schreibtischen der schleswig-holsteinischen Arbeitsrichter landen, liegt deutlich über der des Vorjahrszeitraums. Im ersten Quartal verzeichnete das für Stormarn zuständige Arbeitsgericht Lübeck ein Plus von etwa 20 Prozent. Monatlich wurden rund 300 Verfahren eröffnet. Aktuell sind es elf Prozent mehr. Arbeitsgerichtssprecher Gregor Steidle sieht darin einen "atypischen Verlauf": "Wir hatten mit einem noch größeren Anstieg gerechnet. Das ist aber nicht zu verzeichnen."

Einen Rückschluss auf eine Entspannung auf dem Arbeitsmarkt will Steidle aus dieser Entwicklung allerdings nicht ziehen. Ganz im Gegenteil: "Ich könnte mir vorstellen, dass sich insbesondere größere Betriebe inzwischen in der Art auf die Krise eingestellt haben, dass sie die Reduzierung ihrer Belegschaft sehr professionell regeln", sagt er. So professionell, dass die Arbeitsgerichte davon gar nichts mitbekommen.

Arnim Buck, Fachanwalt für Arbeitsrecht in Ahrensburg, teilt diese Einschätzung voll und ganz. "Im Herbst vergangenen Jahres gab es plötzlich einen rasanten Anstieg an Arbeitsgerichtsprozessen", sagt er. Das habe auch seine Kanzlei gespürt, weil die Zahl entsprechender Mandate deutlich stieg. Rückblickend spricht Buck von "Phase eins" der durch die Wirtschaftskrise bedingten Kündigungen.

"Da haben die Chefs unter dem Vorwand der Krise erst mal die unternehmerische Entscheidung getroffen, sich von zumeist älteren und weniger leistungsfähigen Mitabeitern zu trennen", sagt er. Intern sei in den Unternehmen von "Low-Performern" gesprochen worden. In den seltensten Fällen sei der Betriebsrat eingeschaltet gewesen, es habe keinen Interessenausgleich - eine Abwägung unter sozialen Aspekten, wer gehen muss und wer bleiben darf - gegeben. Die klassischen Fälle für Kündigungsschutzklagen also.

"Und dann ist die Krise wirklich gekommen", sagt Buck. Das sei "Phase zwei" gewesen. "Plötzlich mussten auch Mitarbeiter gehen, die man eigentlich schätzt." Inzwischen sei die dritte Phase erreicht: "Die Unternehmer merken, dass die Krise so stark ist, dass sie nicht umhinkommen, Sozialpläne aufzustellen." Dann werde nach einem Punktesystem entschieden, wer gehen muss: Betriebszugehörigkeit, Lebensalter, Unterhaltsverpflichtungen und Schwerbehinderung würden in dieser Reihenfolge und Wertigkeit gegeneinander abgewogen.

Arnim Buck bestätigt, was Richter Steidle vermutet: "Wer dann abgefunden wird, zieht nicht vor Gericht." Das allerdings hält der Fachanwalt für einen Fehler. "Viele denken, sie verspielen ihre Abfindung, wenn sie klagen. Das ist ganz klar nicht der Fall", meint der Ahrensburger. Man habe sogar die Chance, noch mehr Geld rauszuhandeln. Zurzeit würden von den Firmen zum Teil extrem hohe Summen geboten.

Während Anwalt Buck die Erfahrung gemacht hat, dass vor allem Mitarbeiter der Metallindustrie und von Zuliefererbetrieben der Automobilindustrie von Entlassungen betroffen seien, macht Arbeitsgerichtssprecher Steidle noch eine andere Beobachtung: "Die Arbeitnehmer, die jetzt noch Kündigungsschutzklagen führen, sind häufig bei Personaldienstleistern beschäftigt gewesen." Außerdem gebe es in jüngster Zeit vermehrt Klagen von Arbeitnehmern, die ihren Lohn nicht mehr regelmäßig ausbezahlt bekämen - nach Steidles Einschätzung auch eine Folge der Wirtschaftskrise.