Wir stellen Stormarner und ihre Berufe vor. Wir begleiten sie einen Tag lang. Heute: Reinhard Scharf, Justizvollzugsbeamter aus Hamberge.

Der Flur wirkt endlos. Jeder Schritt im unterirdischen Tunnel hallt zwischen den kahlen Betonwänden. Und bei jedem Schritt erklingt das unverkennbare Rasseln eines Schlüsselbundes. Dieser baumelt an einer dicken Metallkette der blauen Uniform von Reinhard Scharf. Der 42-Jährige aus Hamberge ist Justizvollzugsbeamter. Der Tunnel endet im Zellentrakt der Justizvollzugsanstalt Lübeck. Ein Geruch aus Linoleum, Schweiß und Fett dringt in die Nase, sobald er die Tür zum G-Haus öffnet. Es ist der Trakt, in dem die Langzeithäftlinge untergebracht sind. Mörder, Vergewaltiger, Drogenhändler und Pädophile sitzen dort ihre Strafe ab. Viele von ihnen sind nicht zum ersten Mal im Gefängnis – es ist der sogenannte Regelvollzug.

6.15 Uhr: Die Zellen im G-Haus werden aufgeschlossen

Bereits kurz nach Dienstbeginn schließt Scharf mit einem Kollegen die 52 Stahltüren im zweiten Stock auf und entriegelt sie. Immer wieder ertönt das Schlüsselbund. "Wir machen eine kurze Lebenskontrolle und gucken, ob alles okay ist", sagt Scharf. Jede acht Quadratmeter große Zelle sieht nahezu gleich aus. Alle Häftlinge haben die gleichen Holzmöbel, die gleiche blau-weiß karierte Bettwäsche. Lediglich die Wände unterscheiden sich. Einige haben dort Fotos angeklebt, bei anderen zieren Kalender mit spärlich bekleideten Frauen die weißen Mauern.

Ist alles in Ordnung, rollt ein Speisewagen durch die schmalen Gänge und Gefangene, die Küchendienst haben, verteilen das Frühstück. Eine Kelle Milch und ein paar Scheiben Brot bekommt jeder. Anschließend werden die Zellen wieder verschlossen. Erst um 7.50 Uhr werden die Türen wieder entriegelt. Denn zehn Minuten später beginnt für die meisten Gefangenen die Arbeit. Einige müssen in die Wäscherei, manche in die Küche, andere wiederum sind Flur- oder Hofreiniger. Doch nicht alle haben Arbeit. Jeder, der arbeitslos oder in Rente ist, hat für eine Stunde Freigang auf dem Hof. Bevor es nach draußen geht, werden die Männer auf den Fluren durchsucht. Scharf zieht sich weiße Gummihandschuhe an und tastet alle ab. "Wir gucken, ob die Männer selbst gebaute Waffen oder Drogen zum Handeln bei sich haben." Denn auf dem mit Stacheldraht eingezäunten Hof treffen die Schwerverbrecher aufeinander.

"Es gibt viele Möglichkeiten, Rauschgift ins Gefängnis zu Schmuggeln", sagt Reinhard Scharf. Der Klassiker seien mit Drogen gefüllte Tennisbälle, die über die Mauer geworfen werden. Aber auch Besucher schmuggeln immer wieder Pillen, Haschisch, Kokain oder Heroin ins Gefängnis. "Der Kreativität sind da keine Grenzen gesetzt", so Scharf.

Es überrascht die Justizvollzugsbeamten nicht, dass auch an diesem Tag bei einem Gefangenen ein Päckchen mit rosafarbenen Pillen gefunden wird. Später wird sich herausstellen, dass es sich um Amphetamine, also vermutlich Speed, handelt. Der Häftling wird mit einer längeren Aufschlusssperre bestraft. Die Drogen werden zur Polizei geschickt, die für die weiteren Ermittlungen zuständig ist.

8.15 Uhr: Ein Arzt verabreicht einigen Gefangenen eine Ersatzdroge

Wie begehrt der Stoff in dem Gefängnis ist, zeigt die sogenannte "Polagruppe". Sie besteht aus Dutzenden Häftlingen, die sich im Untergeschoss versammeln. Sie alle sind drogenabhängig. Scharf und seine Kollegen begleiten die Gefangenen ins Lazarett. Dort verabreicht ihnen der Anstaltsarzt die Heroin- Ersatzdroge Polamidon. Scharf steht mit verschränkten Armen daneben, beobachtet, ob auch jeder Häftling anschließend einen halben Becher Wasser trinkt. "Diese Maßnahme haben wir eingeführt, nachdem einige das Polamidon in ihrer Zelle wieder ausgespuckt haben, um es an Mithäftlinge zu verkaufen", sagt der Beamte und schüttelt dabei den Kopf. Hat jeder aus der Gruppe die Ersatzdroge geschluckt, geht Reinhard Scharf auf den Gefängnishof. Jede Tür, durch die er geht, muss er auf- und wieder zuschließen.

Auf dem Hof stehen die Häftlinge in Grüppchen zusammen und unterhalten sich, andere gehen spazieren oder joggen ein paar Runden. Scharf beobachtet sie. Eigentlich hatte der 42-Jährige Raumausstatter gelernt. Doch er war mit seinem Job unzufrieden. "Ich hatte immer Rückenschmerzen vom Teppichverlegen", erinnert sich der Hamberger: "Eines Tages kam meine Frau mit der Zeitung zu mir und sagte, du wollest doch schon immer mit Menschen zu tun haben – hier, die suchen noch Mitarbeiter in der JVA." Und sie legte ihm die Annonce auf den Tisch. "Ich hab‘ sie erst mal gefragt, ob sie verrückt ist", erinnert sich Scharf.

Dennoch bewarb er sich 1998 und hat es bis heute nicht bereut. Nach der Ausbildung kam er 2001 in den Langzeitvollzug. Viele der Inhaftierten kennt er gut. "Natürlich erzählen mir einige ihre Geschichte", sagt Scharf: "Ich höre den Männern zu und sage manchmal auch, dass, wenn es nach mir gegangen wäre, er ein paar Jahre mehr bekommen hätte." Er selbst gibt von seinem Privatleben kaum etwas preis. So wissen die meisten Männer nicht, dass Scharf sich jahrelang politisch in seiner Gemeinde engagiert hat. "Bis vor Kurzem saß ich noch im Gemeinderat", sagt der Hamberger. Doch er wollte mehr Zeit mit seiner 19-jährigen Tochter und seinem Sohn, 16, verbringen. Zudem liebt er es, mit seiner Frau zu Weinproben zu fahren.

9.10 Uhr: Die Gefangenen müssen zurück in ihre Zellen

Nach rund einer Stunde müssen die Häftlinge wieder zurück in ihre Zellen. Über Funk gibt Scharf durch: "Die Freistunde rückt wieder ein." Die Männer gehen an ihm vorbei. Er blickt jedem ins Gesicht. "Meine Frau sagt, dass ich, seitdem ich im Gefängnis arbeite, viel misstrauischer geworden bin", sagt Scharf und fügt hinzu: "Das merke ich selbst aber auch. Bevor ich Justizvollzugsbeamter wurde, habe ich in den Menschen immer das Gute gesehen. Heute ist das nicht mehr so." Schließlich wisse er, wozu Menschen fähig sein können. "Meine Tochter wollte letztens mit ihrem Roller abends über Feldwege zu einer Party fahren. Es kam zum Streit. "Letztlich haben wir uns aber darauf geeinigt, dass ich sie die Hälfte des Weges begleite." Ohne seinen Job in der JVA hätte er wohl nicht so reagiert. Doch die 14 Jahre im Gefängnis haben ihn geprägt. "Am Anfang musste ich lernen, dass meine Gutmütigkeit nur ausgenutzt wird."

Den 26. Oktober 2004 wird er niemals vergessen. Es war ein Dienstag. Reinhard Scharf hatte, wie heute, Frühschicht. "Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie Christian Bogner mit seinem hellbraunen Parker an mir vorbeiging. Mir noch in die Augen schaute, bevor er sich auf den Weg zur Schlosserei machte." Es ist ein Bild, das sich in sein Gedächtnis gebrannt hat. Denn kurz darauf flüchtete der Strafgefangene. Sein Ausbruch war gut geplant: In den Tagen zuvor hatte er einen Gabelstapler manipuliert und eine Leiter in der Schlosserei gebaut. Beides half ihm, die vier Meter hohe Mauer zu überwinden. Der Bruder des Bankräubers hatte alles Weitere geplant, unter anderem einen Mann gefunden, der Christian Bogner zum Verwechseln ähnlich sah. Auf seiner Flucht tötete Bogner seinen Doppelgänger, um seine Identität anzunehmen. Vier Tage später wurde er festgenommen. In der JVA Lübeck wurde die Schlosserei geschlossen und eine sechs Meter hohe Mauer um das zwölf Hektar große Gelände gebaut.

Obwohl es die Schlosserei seit Jahren nicht mehr gibt, überraschen die Gefangenen die Beamten auch heute immer wieder mit selbst gebauten Dingen: "Beispielsweise hat ein Inhaftierter zwei Löffel zusammengebunden, den Draht in die Steckdose gesteckt und sich so einen Wasserkocher gebaut." Bei der wöchentlichen Durchsuchung der Zellen finden die Beamten auch gelegentlich selbst gebaute Tätowiermaschinen. Dafür brauchen die Häftlinge einen Rasierapparat, einen Kugelschreiber und eine Nadel. "Eine Zeit lang war es beliebt, sich eine Träne unter das Auge zu tätowieren oder einen schwarzen Strich am Ende des Augenlids. Als Mutprobe gilt ein Tattoo auf der Stirn", sagt Scharf und deutet auf einen Gefangenen, der an ihm vorbeigeht. Ein breiter gezackter schwarzer Balken ziert dessen Stirn.

10 Uhr: Reinhard Scharf bearbeitet im Dienstzimmer Besucheranträge

Sobald der letzte Gefangene wieder zurück in seiner Zelle ist, setzt sich Reinhard Scharf im Dienstzimmer an den PC und tippt die Besuchsanträge der Gefangenen ein. Sein Kollege Martin Wulff öffnet indes die Post für die Gefangenen. Gelesen werden die Briefe nicht. Jedoch guckt der 53 Jahre alte Beamte, ob die Angehörigen Geld oder irgendwelche Gegenstände in die Umschläge getan haben. "Sind beispielsweise Geldscheine drin, nehmen wir diese raus und zahlen es auf das Konto des Inhaftierten ein", sagt Wulff. Nach dem Mittagessen haben die Gefangenen eine Freistunde auf dem Gang und können ihre Post abholen. Um 12 Uhr verschließen Scharf und Wulff wieder die 52 Hafträume. Gegen 13 Uhr hören beide das Rasseln von Schlüsseln. Es sind ihre Kollegen aus der Spätschicht.