Ob Brand in einer Diskothek oder Großunfall auf der B 73: Wer gut vorbereitet ist, weiß, wie er sich verhalten muss.

Stade. Qualm dringt aus dem Kellerfenster, die Flammen schnellen durch den Raum, Panik bricht unter den 200 Gästen in der Diskothek aus. Großeinsatz für die Rettungskräfte. In kurzer Zeit sind etliche Feuerwehrautos vor Ort, Polizisten regeln den Verkehr, Notärzte eilen von einem Ort zum anderen. Doch Christian Lenz vom Deutschen Roten Kreuz (DRK) schaut ganz in Ruhe von oben auf das Szenario, das sich vor ihm abspielt, notiert alles akribisch auf eine Tafel.

Die Katastrophe ist zum Glück bloß gestellt - und das noch im Miniaturformat. Doch was wie ein lockeres Spiel aussieht, entscheidet im Ernstfall womöglich über Leben oder Tod. Als die Zahl der als schwer oder tödlich verletzt markierten Männchen ansteigt, gerät Christian Lenz stark ins Schwitzen. "Stopp!", ruft Hanns Roesberg. "Wie fühlst du dich jetzt?", fragt der Ausbilder. "Schlecht", sagt Lenz. "Zu viele Tote", so die knappe Antwort. Dafür gebe es aber keinen Grund, wie Roesberg findet. "Du bist richtig gut in Fahrt, hast alles unter Kontrolle - nur du merkst es nicht", urteilt er. Dass Menschen sterben - daran könne nichts geändert werden. Das sei tragisch. "Aber deine derzeitige Einsatzplanung hat verhindert, dass noch viel mehr Menschen sterben", sagt Roesberg.

Hanns Roesberg ist Dozent am Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (AKNZ) und leitet das Institut für Gefahrenabwehr St. Augustin. Er trainiert Rettungskräfte wie die des DRK in Stade für sogenannte Großschadensereignisse und schwerste Katastrophen. Reisebusunfälle auf der Autobahn, umgekippte Züge, explodierende Tanklaster in der Altstadt, Massenkarambolagen im dunklen Winter - die Form der Schwerstunglücke ist vielfältig. Und immer herrscht am Einsatzort Chaos, bis die ersten Rettungskräfte eintreffen. Ordnung in das Chaos bringen, das ist es, was Roesberg den Männern und Frauen vom DRK bei seinen Echtzeitsimulationen beibringt.

Für die DRK-Helfer in Stade ist es nicht leicht, die komplexen Aufgaben zu lösen, die sie in den simulierten Einsätzen während des zweitägigen Schulungsprogramms lösen müssen. Anfangs werden noch Witze gerissen, doch der Spaß ist schnell vorbei. Der Stress gewinnt bei jedem neuen Szenario innerhalb weniger Minuten die Oberhand - wie beim realen Rettungseinsatz.

Zum Beispiel beim simulierten Unfall auf der B 73: Die ersten Kräfte erreichenden Einsatzort, kaputte Fahrzeuge säumen die Straße, Verletzte befinden sich in den Wagen. Der erste Rettungswagen informiert per Funk die Leitzentrale - und muss vor Ort das Kommando übernehmen. Die nächsten Rettungskräfte treffen ein, alle geben Anweisungen. Bald herrscht ein totales Chaos. "Ich bin gerade komplett überfordert", sagt eine Kursusteilnehmerin. Ihr ist die ihr obliegende Führung der Einsatzgruppen vollständig entglitten. "Fahr die Ellenbogen aus", rät Hanns Roesberg. Wer nicht die Zügel in der Hand behält, hat innerhalb kürzester Zeit ein Problem, das Menschenleben kosten kann.

"Die Belastung ist für die Teilnehmer enorm", gibt Roesberg unumwunden zu. "Egal wer, egal wo, es gibt immer Spannungen", berichtet der Ausbilder, der in ganz Deutschland DRK-Mitarbeiter im sogenannten Taktischen Training fortbildet. Nicht selten seien sich die Teilnehmer dabei in den Kursen gegenseitig an die Gurgel gegangen. Da müsse nur einer im falschen Moment das Falsche sagen, schon gehe es hoch her, wenn einer der Rettungsleute mit dem ungewohnten Druck, der auf ihm lastet, nicht zurechtkommt. "Darum simulieren wir auch gezielt die Großeinsätze unter enormen psychischem Druck", sagt Roesberg. Wer den Druck kennt, wer wiederholt gelernt hat, mit der Belastung in den simulierten Einsätzen fertig zu werden, der behält im Ernstfall eher einen kühlen Kopf und damit die Übersicht. Das rettet Leben.

Ein Kardinalfehler sei es, wenn die Notfallhelfer glaubten, sie könnten immer alle Opfer retten und dass eine Entscheidung auch mal - ohne weitere Konsequenzen - rückgängig gemacht werden könne. Jede Entscheidungen muss schnell und gezielt getroffen werden. Und wer Entscheidungen trifft, der muss auch die Konsequenzen tragen, erklärt Roesberg. Seine Kursusteilnehmer sollen aus den Fehlern lernen, sich weiter Verbessern - in der Stressbewältigung, in der Einschätzung der Lage, in der Organisation der Rettungsmaßnahmen. Wenn durch die Schulungen auch nur ein weiteres Leben gerettet werden kann, so der Konsens der Kursteilnehmer, dann hat sich die Anstrengung schon gelohnt.