Warum zwei Achtjährige aus Heimfeld und Kolumbien quer über den großen Teich spielen. Freunde verfolgen das Spiel auf einer Leinwand.

Heimfeld. 4 Uhr in Bucaramanga, 11 Uhr in Hamburg. Andrés wartet in seiner Küche in Kolumbien auf das "Vamos" aus Deutschland. Zeitgleich herrscht im Pausenraum der Grumbrechtschule in Heimfeld an diesem Tag kurz vor dem Beginn der Hamburger Sommerferien große Aufregung. Gleich wird Andrés auf einer großen Leinwand zu sehen sein. "Un aplauso para Andrés" tönt es dann durch den großen Saal. Alle Kinder klatschen, begrüßen ihren ehemaligen Klassenkameraden freudig. Oben rechts in der Ecke auf der Leinwand erscheint das Bild des kleinen kolumbianischen Jungen. Er lächelt.

Andrés Reyes, acht Jahre alt, ging bis März ebenfalls auf die Integrative Grundschule. Mit Freude nahm er dort an der Schach-AG unter der Leitung von Jürgen Woscidlo teil. Am liebsten spielte er mit Nico Riege, ebenfalls acht Jahre alt. Dann aber musste er wieder nach Kolumbien zurückziehen, weil sein Vater sein Studium an der Technischen Universität Hamburg-Harburg (TUHH) abgeschlossen und ein Jobangebot in Bucaramanga angenommen hatte. Vor seinem Umzug hatte Woscidlo Andrés versprochen, ein virtuelles Schachturnier zu organisieren.

+++ Schach: Wo Kinder Damen schlagen dürfen +++

Woscidlo arbeitet eigentlich als Pfleger, um die Schach-AG kümmert sich der 45-Jährige neben seinem Beruf und seinem Job als Vater zweier Kinder. Von der Elternarbeit aus leitet er seit vier Jahren das Projekt an der Schule und unterrichtet Schach sogar im Kindergarten. Mittlerweile strahlt seine Arbeit auch in den gesamten Stadtteil aus, andere Schulen wollen nachziehen. Ein multikultureller Stadtteil, eine multikulturelle Schule und multikulturelles Schach.

Kinder aus den verschiedensten Ländern mit unterschiedlichen Hautfarben. An dieser Schule kommt es zu weniger Differenzen, Vorurteile lassen nach. Beim Schachspielen finden sie alle zusammen, alle verbunden durch dieses eine Hobby, dem sie freiwillig in ihrer Freizeit nachgehen.

Kinder, die im Unterricht auffallen, unkonzentriert sind und hibbelig auf den Pausengong warten. Beim Schachspielen sind sie fokussiert, lassen sich von nichts aus der Ruhe bringen, freuen sich, dass endlich wieder Schach-AG ist.

Diese Arbeit leistet Jürgen Woscidlo, der Brückenbauer, auch "Mister Schach" genannt. Erst hat er die Brücke nach Kolumbien geschlagen und jetzt plant er eine Partnerschaft mit der Hu-RongHua-Schachschule in Shanghai. Die chinesische Delegation kommt im Juli nach Hamburg und dann wird darüber entschieden, ob nicht bald auch eine Brücke zwischen China und Deutschland existieren wird.

An diesem Tag befinden sich 50 Kinder im Pausenraum, 30 von ihnen waren angemeldet, 20 kamen einfach so dazu, um ihren Freund Andrés noch einmal sehen zu können. Es ist der Tag ihres Jahresabschlussturniers. Alle Mitglieder der Schach-AG, Kinder jeden Alters, treten gegeneinander an. Sie spielen nicht nur das allseits bekannte Schach, sondern auch Varianten davon - das chinesische und das thailändische. Woscidlo legt sehr viel Wert auf interkulturelles Schach. "Die Kinder lernen so spielerisch andere Kulturen kennen", sagt er.

Das chinesische wird "Xiangqi", das japanische "Shogi" und das thailändische "Makruk" genannt. Die drei Spiele haben einen ähnlich hohen Stellenwert in den ostasiatischen Kulturen wie das hiesige europäische. Die Kinder lernen Varianten, die schon lange vor unserem Schach existiert haben. Nur die japanische Variante des Schachs haben die Kinder noch nicht in ihrem Repertoire.

René Gralla, der vor Ort das Geschehen in der Pausenhalle kommentiert und selbst schon einige Artikel zum Thema "Schach" verfasst hat, sagt: "Die Schachspiele transportieren Geschichte, die Partien werden für die Kinder zu richtigen Abenteuerfilmen."

Abenteuerlich - so lässt sich die Stimmung in der Pausenhalle am ehesten beschreiben. Nico setzt sich auf seinen Stuhl auf dem Podest, vor ihm das Schachbrett, neben ihm Woscidlo am Computer. Dahinter die Leinwand, damit auch alle Fans den beiden Jungen beim Spielen zuschauen können.

Das erste Spiel beginnt. Nico setzt seine erste weiße Figur, sein Mentor überträgt diesen Zug auf das Computerspiel "Fritz and Chesster" - Schach für Kinder. So kann Andrés, der zu Hause in Kolumbien am Computer sitzt, auch sehen, welche Figur Nico gerade wohin gesetzt hat.

Vier Züge und eine Minute später ist das Spiel vorbei - Schäfermatt! Andrés gewinnt. Nico fasst sich an den Kopf - der Ärger steht ihm ins Gesicht geschrieben. Ein Anfängerfehler, der dem Achtjährigen, der seit gut anderthalb Jahren Schach spielt, so gut wie nie passiert. Großes Jubeln tönt durch den Saal- Andrés wird via Kamera hoch gelobt. Eine Freundschaft zwischen Kolumbien und Deutschland, eine Freundschaft zwischen zwei Jungen. Auch Nico Riege freut sich für Andrés, weil er ein fairer Spieler ist und er ihm den Sieg gönnt.

Es kommt zu einem zweiten Spiel, und Nico, umringt von all seinen Freunden aus der Schach-AG, starrt hoch konzentriert auf seine weißen Figuren. Eine Zeit lang bleibt das Duell zwischen Schwarz und Weiß ausgeglichen, bis Kolumbien mit einem strategischen Zug in Führung geht. Ein deutscher Fehler folgt -aber nicht von Nico, sondern von Schach-Lehrer Jürgen Woscidlo. Er hat aus Versehen dem Pferd auf dem Computer den falschen Befehl gegeben, einen anderen als Nico auf seinem Brett vollzogen hat. Aus sportlichen Gründen wird das Spiel abgebrochen, da dieser Zug nicht mehr umkehrbar ist.

Mittlerweile führt Andrés 3:0, er lässt sich von der besonderen Situation nicht beeindrucken. Es ertönt wieder das "Un aplauso para Andrés", und die Kinder jubeln und wedeln mit kolumbianischen und deutschen Fahnen in Richtung Bildschirm. Nico gratuliert seinem alten Schach-Freund, Woscidlo klopft seinem Schützling auf die Schulter. Es scheint, als ob Andrés in Bucaramanga einiges dazugelernt hat.

Woscidlo selbst hatte ihm vor seiner Abreise einen Platz im Förderprogramm des kolumbianischen Schachverbandes organisiert. Bevor sich Woscidlo weiter mit "Brückenbauen" beschäftigt und neue Partnerschaften unter Dach und Fach bringt, wird nun erst mal der Siegerpokal nach Bucaramanga zu Andrés Reyes geschickt.