Politikerinnen schlüpfen in die Rolle jüdischer Frauen während des Zweiten Weltkriegs und erzählen deren Schicksale.

Stade. "Ich heiße Frieda Freudenstein und wurde am 1. Juni 1864 geboren. Ich habe im Haus an der Bungenstraße 14 in Stade gewohnt. Ich hätte nie gedacht, dass ich als alte Frau politisch verfolgt werde. Ich fühlte mich in Stade bei meinen Nachbarn und Freunden wohl und sicher. 1940 musste ich auf Anordnung der Gestapo nach Hamburg ziehen. Im Alter von 78 Jahren wurde ich 1942 nach Theresienstadt deportiert und später weiter nach Maly Trostinec, wo ich umgebracht wurde."

Franziska Scheschonk (54) steht vor dem Haus an der Bungenstraße 14 in Stade und erzählt die Lebensgeschichte der Jüdin Frieda Freudenstein in Ich-Form. Seit November 2008 hat sie sich wie Sabine Giesler (49) und Karin Münz (58) mit Schicksalen jüdischer Frauen beschäftigt, die unter dem Terror des Nationalsozialismus in Stade zu leiden hatten. Die drei SPD-Politikerinnen gehören der Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Frauen (ASF) an. Jede von ihnen ist in die Rolle eines Opfers geschlüpft und berichtet von der jeweiligen persönlichen Geschichte.

Andere Politiker der SPD Stade, darunter auch Bürgermeister Andreas Rieckhof, nehmen am erstmaligen Gedenk-Rundgang durch die Innenstadt Stades zu drei Plätzen teil, an denen Jüdinnen wohnten und dem NS-Terror ausgesetzt waren. Die Köpfe der Politiker sind gesenkt. Die Sozialdemokraten hören sich die Schicksale der betroffenen Frauen an. Es herrscht Stille.

Ebenfalls in der Bungenstraße verharrt die Gruppe vor dem Haus mit der Nummer 19. Sabine Giesler berichtet vom Schicksal der Jüdin Ruth Dina Heidemann. "In der Schule wurde ich isoliert und ausgegrenzt. Mein Schulbrot musste ich auf der Toilette essen. Ich durfte am 8. August 1939 mit dem Schiff nach London auswandern. Ein unglaubliches Gefühl von Freiheit mit nur 50 Pfennigen in der Tasche durchfuhr mich", sagt Giesler stellvertretend für Ruth Dina Heidemann, die dem NS-Terror entkam und den Zweiten Weltkrieg überlebte. 1956 kehrte sie erstmalig nach ihrer Ausreise nach Stade zurück. Im Gegensatz dazu wurden ihre Eltern Therese und Adolph Heidemann 1941 nach Riga deportiert und erschossen.

Dritter Anlaufpunkt des Rundgangs ist die Kehdinger Straße 22, in der Johanna Schragenheim wohnte. Karin Münz erzählt, wie die zum Christentum übergetretene Schragenheim aus politischen Gründen mehrmals innerhalb Stades umziehen und 1942 ins Konzentrationslager Theresienstadt verfrachtet wurde. Johanna Schragenheim starb im Alter von 83 Jahren in Gefangenschaft.

Klaus Quiatkowsky, Fraktionsvorsitzender der SPD Stade, hat wie seine Parteikollegen die Vorträge verfolgt. "Ich denke, dass durch solch einen Rundgang die Opfer ein Gesicht erhalten. Ihre Schicksale werden wesentlich deutlicher und nachvollziehbarer", so Quiatkowsky.

Karin Münz geht es in den Schilderungen vor allem darum, dass auch junge Menschen mehr Bezug zu den früheren Stadern entwickeln, die während des Nationalsozialismus mit deutlichen Einschnitten im täglichen Leben zu kämpfen hatten. Vor den Häusern der bekannten Opfer besteht daher auch die Möglichkeit, die vom Abendblatt angeregte Diskussion um die Stolpersteine zum Gedenken an die NS-Opfer in die Tat umzusetzen.

Die SPD der Stadt Stade setzt sich für eine Broschüre ein, in der die Schicksale der NS-Opfer geschildert werden. Dies soll in der Sitzung des Kulturausschusses am Mittwoch, 19. August, thematisiert werden. Weitere Rundgänge sind nach Vorstellungen der SPD künftig auch für Schulklassen möglich und sinnvoll.