Amphetamine, Angst, Schlafstörungen, Stress – Universitäten im Norden bestätigen: Immer mehr Studierende nehmen psychologische Beratung in Anspruch. AStA in Kiel plant nun eine Kampagne.

Studierende der Uni Kiel planen den Tabubruch. Zunehmender Druck, Missbrauch von Medikamenten und Drogen, Suizid: Der Allgemeine Studierendenausschuss (AStA) entwickelt eine Kampagne, die aufklären und sensibilisieren soll. Die Vorreiter aus Schleswig-Holstein hoffen, dass andere Hochschulen sich anschließen. Denn das Kieler Thema betrifft mehr oder weniger jede Universität in Deutschland.

Bereits 2008 schreckte eine Einzelauswertung der Daten von 130.000 Studenten der Techniker Krankenkasse auf: Sie bekommen doppelt so häufig Antidepressiva verschrieben wie Erwerbstätige. Laut Gesundheitsreport 2011 setzte sich der Trend fort: Das Volumen verschriebener Medikamente zur Behandlung des Nervensystems sei bei den studierenden Versicherten innerhalb von vier Jahren um 54 Prozent angestiegen, schreibt die Krankenkasse. Psychopharmaka & Co. machten mehr als ein Fünftel aller verschriebenen Medikamente aus, der mit Antidepressiva behandelte Anteil der Studierenden sei seit 2006 um mehr als 40Prozent gestiegen.

„Wir haben hier zum zweiten Mal nach 2008 die Rezepte der bei uns versicherten Studierenden ausgewertet und betrachten mit Sorge das auffällig hohe Volumen bei Psychopharmaka“, sagte der Vorstandsvorsitzende Prof. Norbert Klusen bei der Vorstellung des Reports. Die Kasse hat ausgerechnet: In einem Hörsaal mit 400 Hochschülern bekommen 16 von ihnen regelmäßig Antidepressiva.

Die Freie Universität Berlin hat eine ähnliche Untersuchung im Wintersemester 2010/11 durchgeführt. Ein Ergebnis: Insgesamt zeige jeder siebte Student Anzeichen für Medikamentenmissbrauch. Das können Schlafmittel sein oder Beta-Blocker gegen Prüfungsangst. Mehr als die Hälfte der befragten Studierenden in Berlin erklärte die Einnahme von Medikamenten damit, sich Kranksein nicht leisten zu können.

„Wir wollen nicht länger, dass das Thema ein Tabu ist“, sagt Sophia Schiebe, Lehramtsstudentin in Kiel. „Das, was wir sehen, ist nur die Spitze des Eisberges.“ Kommt ein Kommilitone in die BAföG-Beratung des AStA, weil die Förderung ausläuft und das Studium noch nicht beendet ist, sei das Ende des Gesprächs häufig die Erkenntnis: Eigentlich liegt das Problem an ganz anderer Stelle, sei es eine psychische Erkrankung, gesundheitliche Probleme oder die Einnahme von Aufputschmitteln. „Viele Studierende trauen sich nicht, so etwas zuzugeben“, weiß Sophia Schiebe. „Sie denken, das sei ein Stigma.“

An der Uni gehe es seit der Umstellung auf Bachelor- und Master-Studiengänge vermehrt ums Funktionieren: Möglichst schnell viele Leistungspunkte zu sammeln, um dann schnellstmöglich das Studium mit Note 1 abzuschließen. Ein Nebenjob, der auf den späteren Beruf vorbereitet, ein soziales Netzwerk und mehrere Praktika sollten nebenbei laufen – und wenn möglich ein Ehrenamt. Dass der Bachelor-Abschluss dann für das Masterprogramm reichen wird, ist wesentlich weniger selbstverständlich als die einstige Fortsetzung des Diplom- oder Magister-Studiums nach der Zwischenprüfung.

Angstattacken, depressive Störungen, fehlende Entspannung, Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Versagensängste, Übelkeit, Magenkrämpfe: Dabei bleibt es bei einigen Studierenden nicht. Und die Wartezeiten für eine psychologische Beratung betragen in Kiel bis zu sechs Wochen. Sophia Schiebe berichtet von Suizidfällen in Wohnheimen, spricht von ein bis drei Fällen in einem Semester. „Die Zahlen sind durch unsere Beratungen bekannt.“ Die Mitarbeiter des Studentenwerks Schleswig-Holstein haben Schulungen zum Umgang mit solchen Vorfällen besucht.

Psychologische Beratung bieten die Studentenwerke an den Universitäten an. Steigende Suizidfälle sind dem Psychologen Laurin Schaefgen vom Studentenwerk Schleswig-Holstein indes nicht bekannt. Nur sehr selten sei das ein Thema in den Gesprächen bei der Beratungsstelle. „Es geht mehr um Lern- und Arbeitsstörungen, Arbeitsorganisation und Zeitmanagement.“ Die Nachfrage an Beratung sei angestiegen, er selbst berät vor allem in Flensburg. „Es gibt insgesamt eine größere Offenheit, Beratung anzunehmen“, sagt Schaefgen.

In Lübeck hat sich nach Angaben der Psychologin Marie-Therese Bockhorst die Anzahl der Ratsuchenden seit 2007 mehr als verdoppelt. Auch die Psychologische Beratungsstelle des Studentenwerks Ostniedersachsen in Lüneburg berichtet von steigendem Bedarf an ihrem Angebot. Rund 400 Studierende von der Leuphana Universität Lüneburg und der Ostfalia Suderburg melden sich dort pro Jahr. Obwohl die Studierendenzahl in Lüneburg von etwa 10.000 auf unter 8000 gesunken ist, gibt es keinen Rückgang in den Anmeldezahlen der Beratung.

„Entscheidungen werden von den Studenten heute als viel riskanter erlebt“, sagt Dr. Rolf Wartenberg von der Beratungsstelle. „An jeder Entscheidung hängt reell Geld. Zwischendurch einmal zu überlegen, ob das gewählte Studium das Richtige ist, ist riskant. Und krank zu werden kann man sich eigentlich auch nicht mehr erlauben – schon gar nicht, wenn etwa Seminare stattfinden, die nur alle zwei Semester laufen.“ Gleichzeitig warnt Wartenberg davor, die Belastungen eines Studiums pauschal als Ursache für Leiden zu sehen, für die sich keine körperlichen Gründe finden lassen.

Die Bereitschaft von Ärzten, Studierende in solchen Fällen zu Psychologen zu schicken, habe zugenommen. „Das heißt aber keineswegs immer, dass dort in jedem Fall Hilfe wartet. Insbesondere im Bereich der Autoimmunerkrankungen steht vieles noch am Anfang der Erforschung, und es wäre unfair, die Belastungen eines Studiums pauschal für alles als Ursache sehen zu wollen“, so Wartenberg.

Der Psychologe führt die Stelle gemeinsam mit seiner Kollegin Rita Harms. „Viele Ratsuchende klagen über hohe Stressbelastungen“, sagt die psychologische Beraterin. „Es fällt ihnen schwer abzuschalten, sie haben mit teils massiven Ängsten und depressiven Verstimmungen zu kämpfen. Viele stellen sehr hohe Leistungsansprüche an sich selbst.“

Eine Häufung von Suiziden oder suizidalen Krisen stellen die Lüneburger nicht fest. Und wer Probleme mit Alkohol, Amphetaminen oder Cannabis hat, kommt eher selten in die Beratungsstelle, hat Harms beobachtet. „Aus der Beratung von Partnern, Angehörigen oder auch Opfern bekommen wir allerdings eine Ahnung über das Ausmaß des teils erstaunlich unkritischen und blauäugigen Umgangs mit Drogen.“

Auch Thorben Peters, 27, vom AStA der Leuphana Universität Lüneburg berichtet von Dauerstress und Depressionen, Ängsten und Amphetaminen unter Studierenden. 60 Stunden Arbeitsbelastung seien Durchschnitt, er selbst hatte voriges Semester drei Nebenjobs.

Neben finanziellen Fragen gehöre Stress zu den Hauptursachen für einen Studienabbruch. Fast ein Drittel aller Studierenden hört vor dem Abschluss auf. Mehr Stoff in weniger Zeit, eingeschränkte Wahlmöglichkeiten, schon ab dem ersten Semester für die Endnote zählende Benotungen: „Das Ergebnis dieser Verschulung ist, dass Studierende sich nicht mit den fremdbestimmten Inhalten auseinandersetzen“, sagt Thorben Peters.

Wissen werde in kürzester Zeit zur Prüfungsleistung aufgenommen und danach wieder vergessen. „Das stresst, nennt sich Bulimie-Lernen und hat mit Bildung wenig zu tun. Man kommt von der Schule auf die Schule. Mündige Persönlichkeiten sehen anders aus“, so der AStA-Sprecher.

Die Leuphana Universität hat auf den Prüfungsdruck unter anderem mit einer „Langen Nacht des Schreibens“ reagiert: Einmal pro Semester steht die Bibliothek von 18 Uhr bis 6 Uhr offen, für fünf Euro gibt es Häppchen, Vorträge und Yoga. Die Plätze sind regelmäßig eine Woche vorher ausgebucht. Thorben Peters sieht das zwar als „nette“ Methode. „Gleichzeitig ist das eine massive Reaktion auf die Symptomatik. Man kann sagen, das Bachelor-Studium macht krank.“

Das bestätigt Catja Weißenberger von der Sozialberatung des AStA der Uni Flensburg: Studienstruktur und verstärkter Leistungsdruck hätten sich „negativ auf die gesundheitliche Konstitution der Studierenden ausgewirkt“, sagt die Diplom-Pädagogin.

Das Sozialreferat des AStA der Universität Hamburg plant derzeit eine Veranstaltung, die Medikamentenmissbrauch, Stressbelastung und psychische Erkrankungen im Zusammenhang mit den Studienbedingungen untersuchen will. Die hochschulpolitische Referentin Franziska Hildebrandt verweist auf eine Studie des Deutschen Studentenwerks, nach der „größere Gestaltungsspielräume bei der Bewältigung gesetzter Anforderungen zu höherer Stresstoleranz führen“. Da Studierende ihre neuen Bachelor- und Master-Studiengänge jedoch kaum nach persönlichen Interessen mitgestalten können, sei die Stresswahrnehmung höher als in traditionellen Fächern.

Die heutige „unternehmerische Hochschule“ werde von einem Ort der Bildung hin zu einem Dienstleistungsunternehmen ummodelliert, sagt Franziska Hildebrandt. „Die aktuelle Studienreform an der Universität Hamburg ist, vor allem von studentischer Seite, darauf ausgerichtet, die Konkurrenzverhältnisse im Bachelor-MasterSystem zu überwinden, durch die Ermöglichung von interessengeleitetem Studium.“ Bestimmte Fristen seien mit der Reform überwunden worden, das „verringert Zwang und Druck“. Sie fordert mehr Demokratie im Studium – „im Sinne der Gesundheit der Studierenden und auch der Gesellschaft“.

Laut einer gesamtdeutschen Studie des Deutschen Studentenwerks fühlen sich 59 Prozent der Bachelor-Studierenden gestresst und nervös, 39 Prozent geben an, kaum zur Ruhe zu kommen. Psychische Belastungen seien kein Randgruppenphänomen: Ein Viertel aller Studierenden leidet unter ernsten psychischen Belastungen. Doch diese Entwicklung könne nicht, wie von einigen Seiten dargestellt, allein auf das Bachelor-Studium zurückgeführt werden, warnt der Psychologe Laurin Schaefgen aus Flensburg: „Das wäre unprofessionell.“