Nach dem Anschlag am Jahrestag der Pogromnacht in Pinneberg rufen Parteien und Organisationen zur Demo auf. Unbekannte hatten eine Glasscheibe der Eingangstür zum Gemeindezentrum beschädigt.

Pinneberg. Irgendwie hat ihn die ganze Sache doch mitgenommen. Wolfgang Seibert steht vor dem Jüdischen Gemeindezentrum in Pinneberg und zieht an einer Filterzigarette. 15 Zigaretten pro Tag raucht der Erste Vorsitzende der jüdischen Gemeinde normalerweise. Seit vergangenem Sonntag hat sich der Konsum verdoppelt, seine Stimme ist heiser. Seit diesem Tag weiß der 66-Jährige: „Noch immer werden Juden in Deutschland bedroht.“ Trotzdem sagt er: „Angst habe ich nicht. Das wäre ja das, was sie erreichen wollen.“

In der Nacht von Sonnabend, 9. November, auf Sonntag, 10. November, haben Unbekannte eine Glasscheibe der Eingangstür zum Gemeindezentrum am Clara-Bartram-Weg in Pinneberg beschädigt – ein Anschlag in einer besonderen Nacht: Genau vor 75 Jahren, im Jahr 1938, brannten in Deutschland Synagogen. Tausende Geschäfte jüdischer Mitbürger, Wohnungen, Betstuben, Versammlungsräume und jüdische Friedhöfe wurden zerstört. Juden wurden beraubt, gedemütigt, misshandelt und ermordet. Die Nazis nannten diese Übergriffe gewalttätiger deutscher Bürger und NS-Männer „Reichskristallnacht“.

Jetzt ermittelt der Staatsschutz in Itzehoe wegen „Sachbeschädigung zum Nachteil der Jüdischen Gemeinde“. Mitte der Woche haben Beamte Nachbarn rund um das jüdische Gemeindezentrum befragt: „Haben Sie in der Tatnacht etwas gehört oder gesehen?“ Auch Schleswig-Holsteins Innenminister Andreas Breitner (SPD) hat der Jüdischen Gemeinde einen Besuch abgestattet und seine Solidarität ausgesprochen. „Die Symbolik und der Zeitpunkt sprechen für eine politische Tat mit einem rechtsextremen Hintergrund“, sagte der Minister.

„Das war keiner dieser antisemitischen Übergriffe, wie wir sie leider immer wieder erdulden müssen“, sagt Wolfgang Seibert. „Das war zum 75. Jahrestag der Pogromnacht ein gezielter Anschlag, der uns sagen soll, ‚wir sind noch da, wir können es immer noch – euch Juden vernichten‘.“

Die Staatsanwaltschaft Itzehoe hat eine Belohnung von 1500 Euro ausgesetzt, wenn der oder die Täter gefasst werden. Auch ein jüdisches Gemeindemitglied, das nicht genannt werden möchte, hat 1000 Euro ausgelobt. „Dieser Vorfall muss durch die Behörden ganz genau aufgeklärt werden“, sagt ein weibliches Gemeindemitglied. „So ein Anschlag am Jahrestag der Pogromnacht ist feige und hinterhältig. Es ist erschütternd, dass so etwas im Jahr 2013 in Deutschland noch passiert.“

Derweil hat eine große Welle der Solidarität aus allen politischen Lagern die Jüdische Gemeinde erreicht. Für den heutigen Freitag rufen Kirchengemeinden aus Pinneberg und Hamburg, der Deutsche Gewerkschaftsbund, Die Linke und Pinneberger Antifaschisten zu einer Demonstration auf. Treffpunkt ist um 18Uhr am Bahnhof Pinneberg. „100 Demonstranten sind angemeldet worden“, sagt der Leiter des Pinneberger Polizeireviers, Thorsten Buchwitz, „aber ich gehe von einer deutlich höheren Anzahl aus, weil auch viele Menschen aus dem bürgerlichen Spektrum kommen werden.“ Auch Pinnebergs Bürgermeisterin Urte Steinberg (parteilos) geht demonstrieren.

Die Pinneberger Jüdische Gemeinde ist eine von fünf nicht-orthodoxen jüdischen Gemeinden, die im Landesverband der Jüdischen Gemeinden von Schleswig-Holstein organisiert sind. Sie hat 260 Mitglieder, drei Viertel davon kommen aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Der Anschlag auf die Jüdische Gemeinde in Pinneberg war der einzige in Schleswig-Holstein am vergangenen Wochenende. Der Landesverbandsvorsitzende Walter Bender erinnert sich indes an einige Übergriffe auf jüdische Einrichtungen im nördlichsten Bundesland: In Bad Segeberg wurden 2012 vier Grabsteine auf dem jüdischen Friedhof umworfen. Zuvor war der Eingang verbarrikadiert und das Schloss zerstört worden. Die Gemeinde in Kiel hatte Maschinengewehrgeräusche auf dem Anrufbeantworter. In Elmshorn beschädigten Unbekannte die Tür der Friedhofskapelle.

Auch in Pinneberg gab es bereits einen Anschlag auf die Jüdische Gemeinde: Im Juni 2008 flog ein Pflasterstein durch eine doppelt verglaste Scheibe im ehemaligen Gemeindezentrum an der Oeltingsallee. Kurz danach brüllte ein Unbekannter ins Telefon im Gemeindebüro: „So was kann öfter passieren, ihr habt keine Ruhe. Sieg Heil!“

Heute Abend wird auch Wolfgang Seibert durch die Straßen Pinnebergs ziehen, um auf die Schandtat vom vergangenen Wochenende aufmerksam zu machen. Seine Großeltern haben das Vernichtungslager Auschwitz überlebt. „Was meine Großmutter mir berichtet hat“, sagt Seibert, „ist so grausam und bösartig, dass ich es nicht einmal meinen Kindern und meiner Frau erzähle.“