1992 warfen Neonazis Molotowcocktails in Wohnhäuser in Mölln. Ibrahim Arslan überlebte, drei Menschen aus seiner Familie aber starben.

Dann steht Ibrahim Arslan wieder vor dem Haus. Drei Stockwerke hoch, der helle Backstein, die hohen Fenster, ein dunkler Balken verbindet heute Tür und Giebel, ein Trauerflor aus Holz. Arslan stützt sich am Arm einer guten Freundin. Er schaut zurück in die Gasse, wo einige Hundert Menschen hinter ihm stehen. Sie folgen ihm und seiner Familie an diesem kühlen Novembertag in einem Schweigemarsch. Arslan weint nicht, sein Gesicht ist ernst. Dann greift er mit einer Hand wieder das schwarze Banner, das sie alle gemeinsam vor sich tragen. Drei Namen stehen dort in weißer Schrift: Ayse Yilmaz. Yeliz Arslan. Bahide Arslan.

20 Jahre ist es her, dass in der Nacht zum 23. November 1992 in der Möllner Polizeistation das Telefon klingelte, es war gegen halb ein Uhr nachts. "In der Ratzeburger Straße brennt es. Heil Hitler." Um acht Minuten nach eins klingelte das Telefon bei der Freiwilligen Feuerwehr von Mölln: "In der Mühlenstraße brennt es. Heil Hitler."

Zwei Häuser brannten. Ratzeburger Straße 13, Mühlenstraße 9. Später wird klar sein, dass die Neonazis Michael P. und Lars C. mehrere Molotowcocktails in die Wohnungen warfen, in denen vor allem Menschen türkischer Herkunft lebten. In der Ratzeburger Straße erlitten neun von ihnen schwere Verletzungen.

In der Mühlenstraße starben drei Menschen. Ibrahim Arslan verlor in dieser Nacht seine Großmutter, 51 Jahre alt, seine Cousine, 14 Jahre, und seine Schwester, gerade 10.

Er selbst überlebte, seine Großmutter rettete ihn aus dem brennenden Zimmer, wickelte ihn in ein nasses Tuch und brachte ihn in die Küche. Dann versuchte sie, die anderen Kinder aus dem Feuer zu holen und starb in den Flammen. So muss es gewesen sein, sagt Arslan heute. Er war damals sieben Jahre alt. "Ich erinnere mich an einen brennenden Hintergrund. Alles ist rot. Und da standen Töpfe." Er wachte im Krankenhaus auf, neben ihm seine Mutter.

Die Tat von Mölln war der erste Brandanschlag von Neonazis im wiedervereinigten Deutschland, bei dem Menschen starben. Es folgte ein Anschlag in Solingen, bei dem fünf Menschen ums Leben kamen. Die Namen der Opfer sind vergessen, im Gedächtnis geblieben sind nur die Städte. Vor Mölln und Solingen gab es Hoyerswerda, Hünxe, Rostock-Lichtenhagen. Es war nur Glück, dass niemand starb.

Eine Woche vor dem Gedenktag organisieren verschiedene Gruppen unabhängig von der Stadt den Schweigemarsch. Auf der Demonstration im Zentrum von Mölln spricht auch Ibrahim Arslan. Er steht auf der Rampe eines Lastwagens und greift das Mikrofon. Er spricht nur kurz, vielleicht eine gute Minute. "Hallo Demonstranten, hier spricht ein Opfer." Vor ihm auf dem Platz stehen einige Hundert Menschen, viele von ihnen halten Plakate über ihren Köpfen. "Wut im Bauch, Trauer im Herzen" oder "Liebe statt Rassismus". Unter den Demonstranten sind vor allem junge Menschen, viele sind angereist aus Hamburg oder Bremen. Arslan ruft einen Satz in ihre Richtung. "Wir als Familie möchten zeigen, dass wir keine Statisten mehr sind, wir sind die Hauptzeugen des Geschehenen."

Ein Jahr nach dem Anschlag verurteilte das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht die Täter wegen dreifachen Mordes und siebenfachen versuchten Mordes zu zehn Jahren Haft nach Jugendstrafrecht und lebenslanger Haft. Opferanwalt im Prozess war der heutige Bundestagsabgeordnete der Grünen, Hans-Christian Ströbele. Er führte damals im Prozess auch einige Äußerungen mehrerer Politiker Anfang der 1990er-Jahre auf. Politiker der Union, aber auch anderer Parteien, warnten vor den Folgen des ansteigenden Zuzugs von Asylbewerbern. Von "Scheinasylanten" ist die Rede gewesen, von einem "Asylstrom" nach Deutschland. Mehrere Medien griffen die Parolen auf. Heute sagt Ströbele: "Es gibt einen Zusammenhang zwischen den Aussagen der Politiker und den Anschlägen wie Mölln und Solingen."

Ibrahim Arslans Familie war 1976 in die Mühlenstraße gezogen. "Ich erinnere mich daran, wie wir meine Oma jeden Abend mit dem Auto von der Arbeit abgeholt haben. Wir Kinder haben uns auf der Rückbank versteckt und wollten sie erschrecken. Sie hat uns natürlich immer bemerkt, aber so getan, als sei sie überrascht." Arslan erinnert sich auch an seine Schwester. Sie hat ihn jeden Tag zur Schule gebracht, seine Hand genommen. "Ich weiß noch, dass mir das peinlich war, weil ich doch ein Junge war und sie ein Mädchen."

2000 zogen die Arslans weg aus Mölln. Endgültig. Heute hat Ibrahim Arslan selbst eine Familie und zwei kleine Kinder. Erzählt er von damals, hustet er immer wieder, räuspert sich. Der Husten sei stärker, wenn er an den Jahrestagen des Anschlags wieder in Mölln ist, und weniger, wenn er im Ausland ist - weit weg von dem, was damals passiert ist. Seit 20 Jahren macht er eine Psychotherapie. Der Horror von damals ist in Arslans Kopf, er hustet die schlimmen Erinnerungen aus.

2004 wurde die Entschädigung für Ibrahim Arslan aberkannt. Die Beeinträchtigung durch den Anschlag sei nicht mehr nachzuweisen, hieß es. Die Familie holte sich einen Anwalt und führte drei Prozesse gegen das Landesamt für soziale Dienste in Schleswig-Holstein. Die Klage zog sich fast zehn Jahre hin, mehrmals musste die Familie neue ärztliche Gutachten vorlegen. Erst seit Anfang 2012 bekommt Arslan wieder eine Entschädigung von den Behörden, ungefähr 120 Euro im Monat. Auch sein Vater und seine Mutter gewannen die Prozesse und erhalten ein wenig Geld. "Alle diese Verfahren haben überproportional lange gedauert, und das Landesamt meinte, immer wieder neue Argumente finden zu müssen, warum den Opfern keine Anerkennung der Folgen durch den Brandanschlag zukommen könne", sagt der Anwalt heute.

Ibrahim Arslan sagt: "Zehn Jahre lang habe ich um meine Entschädigung kämpfen müssen." Arslan fühlt sich schikaniert durch die Behörden, die Polizei, und er fühlt sich und das Schicksal seiner Familie an den Rand gedrängt. In Mölln, in Deutschland. "Es gibt in Deutschland eine Kultur des Vergessens." Dass das Interesse an ihm jetzt so groß sei, liege doch vor allem an der Präsenz der Morde durch das Zwickauer Neonazi-Trio und die Mordserie des "Nationalsozialistischen Untergrunds". Aber wie werde es sein in drei oder vier Jahren? "Ich habe mein Vertrauen in diesen Staat endgültig verloren, dass er mich schützen kann."

Sieben Jahre nach dem Brandanschlag, im November 1999, benannte die Stadt das Haus in der Mühlenstraße nach Bahide Arslan. Ein Schild aus Plastik ist neben der Tür angebracht, gerade so groß wie das Schild einer Zahnarztpraxis. "Am 23. November 1992 starben bei einem Brandanschlag in diesem Haus Bahide Arslan, Yeliz Arslan, Ayse Yilmaz." Von Neonazis oder Rassismus steht dort nichts.

Die erste Zeit nach dem Anschlag hätten sie in einem Gästehaus gelebt, danach habe man der Familie ein Haus am Rand von Mölln angeboten, dann sollte die Familie wieder in eine Containerwohnung. Doch Mitte der 90er-Jahre war das Haus in der Mühlenstraße renoviert. Und die Arslans zogen wieder dort ein. "Die Stadt hat uns vor die Wahl gestellt: Entweder ihr zieht in einen Container oder in das Haus in der Mühlenstraße", sagt Arslan. Bei der Stadt Mölln legt man das heute anders aus. Man habe der Familie Angebote für Wohnungen gemacht. Nur dem Wunsch, dass die Arslans alle gemeinsam aus einem Sicherheitsgefühl in einem Haus in der Stadt leben wollten, habe man nicht nachkommen können. "Wir konnten so schnell kein so großes Haus bereitstellen", sagt ein Mitarbeiter. Außer das Brandhaus. Jeden Tag musste Arslan wieder über die Treppe laufen, auf der seine Oma gestorben ist.

Wer sich in dieser Woche auf der Internetseite der Stadt Mölln vorbeiklickt an der Ankündigung des Weihnachtsmarktes und der Einwohnerversammlung, findet das Programm für den Gedenktag an diesem 23. November. Und klare Verurteilungen der Morde durch den Bürgermeister der Stadt. Es soll einen Gottesdienst in der Moschee geben, der türkische Botschafter kommt. Politiker werden Reden halten, einen Kranz niederlegen. Auch Ibrahim Arslan soll sprechen. Ihm gehört diesmal das Schlusswort in Mölln.

Axel Michaelis ist Straßensozialarbeiter in Mölln. Er war nach einer Weltreise mit dem Fahrrad damals gerade eine Woche wieder zurück in der Stadt, als der Bandanschlag passierte. Nach der Tat gründete er gemeinsam mit anderen Möllnern den Verein Miteinander leben. Hinter dem Haus steht heute ein Begegnungszentrum. In den 20 Jahren nach dem Anschlag seien dort zahlreiche Aktivitäten entstanden, führt Michaelis aus. Theaterstücke, Ausstellungen, eine Demokratiewerkstatt seien nur einige aktuelle Projekte. Jedes Jahr finde ein interkulturelles Kulturfest statt.

Dass die Möllner nach den Anschlägen nichts getan hätten, will man im Begegnungszentrum und auch in der Stadtverwaltung nicht gelten lassen. Von einem Widerstand gegen die Neonazis vor dem Anschlag spricht aber niemand. Die rechtsextreme DVU bekam bei den Wahlen damals in Mölln mehr als acht Prozent.

Arslan lebt gerne in Deutschland. "Ich bin eigentlich mehr Deutscher als Türke. Ich habe einen deutschen Pass, ich bin hier geboren und aufgewachsen." Aber er hasse Mölln. "Weil mir in dieser Scheißstadt das ganze Leid angetan wurde." Es gebe in der Familie viele, die sagen, dass er einfach endlich vergessen solle, was dort passiert sei. "Sogar meine Frau sagt das." Er könne diese Haltung verstehen. "Aber genauso müssen sie verstehen, dass ich das nicht ruhen lassen kann." Auch wenn es wehtut.

In der Nacht auf den 1. November 2012 haben Unbekannte in Mölln an über 20 Hauswände die Parole "Nationaler Sozialismus jetzt" geschmiert.