Zehnjähriger erstickte in selbst gebuddeltem Loch. Leiter des Mineralogischen Museums in Hamburg weist Spekulation um Kniepsand zurück.

Amrum. Der Spielplatz am Strand von Wittdün auf Amrum hat traurige Bekanntheit erlangt: Er ist zum Grab eines Zehnjährigen und zum Schauplatz einer Tragödie geworden, die vier Tage lang nicht nur die zehntgrößte deutsche Insel beschäftigte. Am Heck des "Piratenschiffs", dort wo Sebastian im Sand buddelte, verschüttet wurde und erstickte, liegen Blumen und Briefe. Dazwischen steht eine maritim anmutende weiße Laterne mit einer Kerze.

Eva Holtey-Weber, 44, kniet mit ihrer Tochter und den Kindern eines befreundeten Paares davor im Sand. Sie wischt sich Tränen von den Wangen. "Es ist so hautnah", sagt sie. Die Kinder reden von Sebastian, als hätten sie ihn gekannt. "Hier hat der Sebastian gebuddelt, oder Mama? Und ist dann der Sand einfach so runtergekommen?" Holtey-Weber antwortet geduldig. "Die Kinder haben ja auch von der Suche etwas mitbekommen und begreifen nun langsam, was passiert ist." Es sei wichtig, den Kindern zu vermitteln, dass auch von etwas so Banalem wie einem Sandloch eine Gefahr ausgehen kann.

Und doch lässt viele Menschen auf Amrum die Frage keine Ruhe, wie es überhaupt zu dem Unglück kommen konnte. Warum der blond gelockte Zehnjährige, der mit seiner Familie Urlaub auf der Insel machte, sterben musste, als er ein Loch grub. Am Mittwoch war der am Sonntag spurlos verschwundene Junge nach einer groß angelegten Suchaktion von Polizei und Feuerwehr auf dem Spielplatz am Strand von Wittdün gefunden worden. Seine Leiche lag unter dem Heck des Klettergerüsts "Piratenschiff", in einer Tiefe von 1,50 Metern, begraben unter Sand. Den entscheidenden Hinweis lieferte ein Urlaubsbild, das zeigte, wie Sebastian an der späteren Fundstelle ein tiefes Loch gegraben hatte.

Die Polizei ist sich nach der Obduktion des Jungen sicher, dass es sich um einen Unfall handelt, nicht um ein Verbrechen. Zuvor hatten seine Eltern den Leichnam bereits identifiziert, sie werden psychologisch betreut. "Wir gehen von einem Spielunfall aus", sagte Polizeisprecherin Kristin Stielow. Vermutlich sei der Junge trotz intensiver Suche erst nach drei Tagen gefunden worden, weil der Sandspielplatz völlig unauffällig sei und wie jeder andere zahlreiche Löcher, Gräben und Buckel aufweise. "Ein weiteres Loch fällt da kaum auf", so Stielow.

Spekulationen, wonach feiner Kniepsand zur tödlichen Falle für den Jungen aus Österreich wurde, wies Professor Jochen Schlüter, Leiter des Mineralogischen Museums in Hamburg, zurück. Zufällig sei er selbst am Piratenschiff gewesen, als der Leichnam des Jungen am Mittwoch geborgen wurde. "Der Sand auf dem Spielplatz ist gewöhnlicher Quarzsand", sagte Schlüter. Kniepsand, in den Menschen tatsächlich leicht einsinken könnten, befinde sich gewöhnlich weiter draußen. Ähnlich wie die Polizei geht auch Schlüter davon aus, dass der Junge ein Loch buddelte, bis der Sand am Rand über ihm zusammenbrach. Durch die Witterung der vergangenen Wochen sei der Sand in etwas tieferen Schichten noch durchfeuchtet. Vorstellbar sei, dass der Junge tief grub, der feuchte Sand rasch durch die Sonne trocknete - und das Loch deshalb instabil wurde.

Die Unglücksstelle ist unterdessen zu einer kleinen Gedenkstätte geworden. Familien mit Kindern gehen zu dem Spielplatz auf der Nordseeinsel, mit Grablichtern, Blumensträußen und Briefen nehmen sie Abschied von dem zehn Jahre alten Jungen aus der Region Wien. Aus Trauer um den tragischen Tod sind auf Amrum zahlreiche Fahnen auf halbmast gesetzt.

Auch Kathrin Grohnert, 42, ist betroffen. Sie wohnt auf der Insel und kennt den Unglücksort gut. Oft spielt dort ihr achtjähriger Sohn. "Das ist schon ein gruseliger Gedanke, dass dort nun ein Kind gestorben ist", sagt sie. "Wirklich jeder hier auf der Insel ist traurig." Sie selbst habe in der Nacht zum Montag mitgesucht. Feuerwehrmänner seien ohne Schlafpause von abends um sieben bis 17 Uhr am nächsten Tag auf der Suche gewesen - ohne Erfolg. Die vier bedrückenden Tage haben Spuren bei den Insulanern hinterlassen. "Ich würde sie am liebsten streichen", sagt Kathrin Grohnert. Nur eine Sache sei ein kleiner Trost: "Zumindest wissen wir jetzt, dass hier niemand auf der Insel unterwegs ist und Kinder schnappt."

Ein Hauch von Erleichterung auf Amrum? "Ich würde es eher traurige Gewissheit nennen, dass ein Kind tot ist", sagt Frank Timpe, 44, Vorstand der Amrum Touristik. Schließlich habe jeder doch noch irgendwo die Hoffnung auf einen glücklichen Ausgang gehabt. "Wir müssen versuchen, nun Normalität im Rahmen der Umstände zurückzuerlangen." Trotzdem wurden die für die kommenden Tage von der Touristik geplanten Konzerte abgesagt. Eine Insel trauert.

Aber auch auf dem Festland hat die Tragödie um den kleinen Jungen Bestürzung ausgelöst. "Wir erhalten ständig neue Nachrichten von Stammgästen und ehemaligen Besuchern, die tief mit Amrum verbunden sind und ihr Mitgefühl aussprechen." Auf Facebook gibt es ein virtuelles Kondolenzbuch. Fast 3000 Menschen sprechen so ihr Beileid aus. "Ich wünsche Ihnen allen die Kraft, diesen Riss im Leben zu verkraften und irgendwann auch zu verstehen", schreibt Franziska Zeller an die Hinterbliebenen. "Kein Mensch der Welt hat diesen Schmerz verdient."

Auch in das Buch, das in der Kirche von Wittdün ausliegt, haben sich viele eingetragen. Familie Moritz schreibt, sie sei zum vierten Mal auf Amrum - ihrer "Insel der Glückseligkeit". "Aber jetzt sind wir bedrückt und in unseren Gedanken bei der Familie von Sebastian." Seit Sonntag findet in dem Gotteshaus außerplanmäßig jeden Abend um 19 Uhr eine Abendandacht statt. "Ich dachte, die Menschen brauchen in so einer Situation einen Anlaufpunkt", sagt Hanna Lehming, 54, aus Hamburg, die als Urlaubspastorin auf der Insel ist.

"Es ist schon - gerade hier, wo viele die Tür nicht abschließen und einander vertrauen - eine Erleichterung, dass sich die ganz bösen Fantasien eines Verbrechens nicht bestätigt haben." Dies wäre eine noch tiefere Erschütterung für die Insel gewesen. Aber das macht den Tod des kleinen Sebastian nicht weniger schlimm. "Es ist eine andere Art des Entsetzens", sagt Lehming. "Dieser Gedanke, dass keiner etwas falsch gemacht hat und trotzdem solch ein Unglück passiert ist."

Der fünfjährige Felix findet den Sand super und buddelt fleißig weiter. Hätte er gedacht, dass das gefährlich sein kann? "Neeeeeee", sagt er und schüttelt den Kopf. Keinen Meter neben ihm sitzt seine Mutter, Delphin Holzendorf, um auf ihren Sohn aufzupassen. Zu groß ist die Angst. "Da bekomme ich gleich wieder Gänsehaut, wenn ich an den Jungen denke", sagt die 40-jährige Berlinerin und hält wie zum Beweis ihren Arm hoch. "Ich stelle mir das schrecklich vor."