Insel der Lotsen, Insel der Schmuggler, Insel des zollfreien Einkaufs - Helgoland hat schon mehrere Phasen der wirtschaftlichen Blüte erlebt.

Helgoland. Der Bürgermeister von Helgoland erzählt in diesen Tagen gern eine Geschichte: Bitter arm waren um 1820 die Bewohner der Insel in der Nordsee. Bis Anfang des 19. Jahrhunderts hatten sie ihr Auskommen durch das Lotsen von Handelsschiffen gehabt, während der Kontinentalsperre machten sie mit Schmugglerware Geschäfte. Als die wegbrachen, hielt die Armut Einzug auf dem roten Felsen. Ein Mann mit Visionen führte die Insel schließlich in eine neue Ära. Der Schiffszimmerer Jacob Andresen Siemens gründete 1826 den Seebadbetrieb auf der Insel. Das arme Dorf entwickelte sich zum mondänen Kurort für Adel und Großbürgertum.

"Wie zu Siemens' Zeiten steht Helgoland heute an einem Scheideweg", sagt Bürgermeister Jörg Singer, der seit Anfang 2011 die Inselgeschäfte führt. In der jüngeren Geschichte hat Helgoland tatsächlich bessere Tage gesehen. Die Zeiten, in denen 800 000 Gäste im Jahr die Insel besuchten, sind lange vorbei. In der Tourismusbranche und in der Biologischen Anstalt entstehen kaum neue Arbeitsplätze. Insulaner verlassen ihre Heimat, um auf dem Festland zu arbeiten.

Schaut Jörg Singer in die Zukunft, sieht er ein anderes Bild: eine wachsende Gemeinde, viele zusätzliche Arbeitsplätze, das Hereinbrechen einer neuen goldenen Ära auf dem roten Felsen.

Helgoland wird die erste Offshore-Service-Insel der Welt. Drei Energiefirmen bauen 25 bis 40 Kilometer nördlich der Insel Offshore-Windanlagen in der Nordsee. RWE wird den Windpark Nordsee Ost errichten. Baustart ist der 30. August dieses Jahres. E.on baut 2013 die Anlage Amrumbank West, die Firma WindMW nennt ihr Projekt Meerwind. Insgesamt 200 Windräder werden in zwei Jahren so viel Strom produzieren können wie ein mittelgroßes Atomkraftwerk.

Die auf dem Meeresgrund stehenden Windkraftanlagen müssen gewartet werden. 150 Fachkräfte werden künftig für die Wartungsarbeiten gebraucht. Sie werden auf Helgoland leben. Und das bislang mehr oder weniger brachliegende Südhafengelände und Teile des Vorhafens von Helgoland werden ab Anfang 2013 zum Servicehafen für die Offshore-Windparkbetreiber umgebaut. Auf 10 000 Quadratmetern lassen die Energiefirmen dort drei Servicegebäude mitsamt Werk- und Lagerhallen errichten. An der Kaikante des Vorhafens werden mindestens zehn Bootsanlegeplätze geschaffen. Insgesamt 27,5 Millionen Euro investieren der Bund, das Land Schleswig-Holstein, der Kreis Pinneberg und die Gemeinde Helgoland in die Erschließung des Geländes und den Hafenausbau.

Sobald die ersten Windräder vor Helgoland Strom liefern, werden jeden Morgen vom Südhafen aus Schiffe mit Monteuren und Ingenieuren zu den Windparks im Meer starten und am Abend zur Insel zurückkehren. Bei Sturm und hohem Wellengang fliegt ein Hubschrauber die Fachkräfte zu ihren Arbeitsplätzen auf hoher See. Für den Helikopter entsteht neben dem schon bestehenden Heliport der Bundesmarine am Südhafen ein weiterer Hangar.

Für die vielen Mitarbeiter benötigen die Energiefirmen Unterkünfte. Die Schramm Group, ein maritimer Dienstleister mit Sitz in Brunsbüttel, hat neuerdings eine Dependance auf Helgoland. Das Unternehmen baut derzeit für RWE zwei Häuser im Mittelland mit Unterkünften für 30 Monteure. WindMW hat ab 1. Januar 2013 das Design-Hotel Atoll mit seinen 50 Zimmern und Suiten komplett und auf die Dauer von zehn Jahren für seine Angestellten und Gäste gepachtet. E.on mietet zwei Aparthotels im Oberland für seine Mitarbeiter.

Für die 1300 Helgoländer sind die anstehenden Veränderungen starker Tobak - die Insulaner sind bekannt dafür, dass sie sich schwertun mit Innovationen. Zuletzt lehnten sie per Bürgerentscheid die Vergrößerung der Insel durch Aufschüttungen zwischen dem Felsen und der Badedüne ab. Mit dem Ausbau von Teilen der Insel zum Offshore-Servicestandort werden sie nun leben. Den B-Plan haben die Gemeindevertreter Ende März beschlossen. Seit drei Wochen ist er rechtskräftig.

Jetzt geht es Schlag auf Schlag. Schon in der kommenden Woche starten Experten des Kampfmittelräumdienstes Schleswig-Holstein mit der sogenannten Baureifmachung des Südhafengeländes. Sie entfernen Munitionsaltlasten aus dem Boden. Dabei bangen die Helgoländer zwar nicht um ihr Leben - Bombenentschärfungen haben sie reichlich er- und überlebt. Sie fürchten aber, dass bei der Bombenbergung eventuell notwendige Evakuierungen die Gäste vergraulen.

Die Sorge der Helgoländer gilt nämlich vor allem dem Tourismusgeschäft. Verständlich. Ist es doch bislang Haupteinnahmequelle der meisten Inselbewohner. So befürchten sie, dass die Gästebetten für die Stammgäste knapp werden. Hotelier Detlev Rickmers ist sich des Problems bewusst. "200 der 2600 Betten werden über zwei Jahre für die Gäste ausfallen", sagt der Eigentümer des Hotels Insulaner. Er ist mit E.on im Geschäft und profitiert damit auch vom Offshore-Standort Helgoland. Aus Mangel entstehen aber bekanntlich auch Impulse, und so sieht Rickmers optimistisch in die Zukunft. "Das ist ein Anreiz, auf der Insel zu investieren."

Hotelier und Bürgermeister sind sich einig: Die Windparks geben den Rückenwind für eine Modernisierung und Vitalisierung der Insel. Mit den verlässlichen Einnahmen aus der Verpachtung an E.on ließen sich Investitionen in seine Touristenhotels finanzieren, sagt Rickmers. Er plant beispielsweise, sein in die Jahre gekommenes Falmhotel im Oberland zu einem hochklassigen Literaturhotel umzubauen.

Nicht zuletzt fürchten viele Insulaner schlicht die Industrialisierung ihrer Naturoase. Hans Stühmer, Sammler des weltweit einmaligen roten Helgoländer Feuersteins, ist einer der Skeptiker. "Wir haben Jahrzehnte daran gearbeitet, dass Helgoland Natur pur bleibt", sagt der Naturschützer. "Und jetzt soll das hier Industriestandort werden." Detlev Rickmers ärgert sich über solche Sätze. "Helgoland ist seit ewigen Zeiten Verkehrsknotenpunkt in der Nordsee. In dieser Eigenschaft erfährt die Insel jetzt eine Stärkung."

Die Nachricht, dass sich das Paradies für Duty-Free-Shopper und Naturfreunde zum Offshore-Wirtschaftsstandort entwickelt, spricht sich bei Unternehmern herum. Von Goldgräberstimmung auf der Insel ist die Rede. Sekundärdienstleister melden Interesse an. Ein Schiffsdieseltechniker will sich auf Helgoland niederlassen. "Das Unternehmen verhandelt aktuell mit den Windparkbetreibern", sagt Peter Singer von der Hafenprojektgesellschaft Helgoland. "Künftig werden hier viele Schiffe im Hafen liegen, die gewartet werden müssen", sagt der Namensvetter des Bürgermeisters. Dafür würden viele Fachkräfte auf der Insel gebraucht. Zudem lägen Anfragen von Offshore-Trainingszentren vor, die ihre Mitarbeiter auf der Insel schulen lassen wollen. "Wir erleben gerade so was wie eine industrielle Revolution", sagt Peter Singer. "Zum ersten Mal werden Kraftwerke vom Land ins Meer verlegt. Helgoland hat jetzt die Chance, sich als Zentrum dieser Branche in Deutschland zu positionieren."

Hotelier Rickmers sieht Offshore als Riesenchance für das touristische Helgoland. Jetzt könnten sich die Insulaner endlich einen lang gehegten Wunsch erfüllen: Mit der Verlegung des Frachthafens vom Binnen- in den Südhafen könnte vor den berühmten Hummerbuden endlich eine Marina entstehen.

Angedacht ist nach Angaben von Bürgermeister Jörg Singer auch die Verlängerung der bislang ziemlich charmefreien Landungsbrücke. An den neuen Landungsbrücken sollen auch die Bäderschiffe festmachen. Obwohl dann das traditionelle Ausbooten ein Ende habe, sei Offshore sogar eine Chance für die Börte, sagt Hafenexperte Peter Singer. "Die Börte-Skipper besitzen Kapitänspatente." Sie könnten die Crew Vessels steuern, jene Fähren, mit denen die Techniker von der Insel zu den Windparks und zurück fahren.

Eine weitere Sorge der Helgoländer: Ihre Gemeinde könnte sich mit ihrem Beitrag in Höhe von acht Millionen Euro zum Ausbau des Südhafens ruinieren. "Jeder in den Ausbau der Insel zur Offshore-Basis investierte Euro fließt 2,6-fach durch Pachteinnahmen und Liegegebühren zurück", rechnet Bürgermeister Jörg Singer dann vor. Und mehr: "Die Menschen, die zum Arbeiten herkommen, geben Geld aus, kaufen ein, gehen essen." Gewerbesteuern von den Windparkbetreibern seien dabei noch gar nicht berücksichtigt.

Hans Stühmer sitzt vor der Hummberbude 31 und schaut Richtung Südhafen. Von der Goldgräberstimmung auf der Insel will er sich nicht anstecken lassen. Er zweifelt an den Rechenbeispielen des Bürgermeisters. Auch was die Gewerbesteuereinnahmen angehe, sei er skeptisch. "Die werden erst bei Gewinnen fällig. Und wer weiß, wann das sein wird."

Die auf der Insel lebende Naturfotografin Lilo Tadday hat Helgoland einmal als "eines der letzten Paradiese auf Erden" bezeichnet. Damit spricht sie Hans Stühmer aus der Seele. Er fürchtet um die einmalige Schönheit seines Eilandes. "Es gibt Menschen, die darüber lachen. Aber mir tut das weh."

An dieser Stelle tritt Bürgermeister Singer wieder mit seiner Geschichte aus der Insel-Historie auf den Plan: Auch 1826 hatten die Helgoländer Angst, als Jacob Andresen Siemens eine Badeanstalt auf der Düne baute. Sie sahen darin den Niedergang ihrer Insel als Lotsenstandort. Grundlos. In den 1830er-Jahren steuerten erste Dampfschiffe von Hamburg aus Helgoland an. Wenig später kamen Tausende Badegäste pro Jahr nach Helgoland. Mit den Einnahmen bauten die Insulaner ein überdachtes Schwimmbad, eine Landungsbrücke und ein Kurtheater.