Appen. Matthias Riedl wurde früher belächelt, heute gefeiert: Der Arzt gilt als Koryphäe der Ernährungsmedizin und hat diese revolutioniert.

Das Haus ist lichtdurchflutet. Der Blick fällt durch die bodenlangen Fenster auf einen Teich. Ein kleines Paradies hat Matthias Riedl vor seiner Haustür in Appen-Unterglinde. „Dort leben seltene Salamander und Schlangen“, sagt der bekannte Ernährungsmediziner. Einmal habe er eine Europäische Sumpfschildkröte am Wasser gesehen. Gänse brüten im Frühjahr in der Nähe, auch Fasane hat er schon gesehen. „Ich lebe gern in der Natur“, sagt Riedl, der früher gern Förster werden wollte und sich dann doch für die Medizin entscheiden hat.

Das Grün habe nachweislich eine gesundheitsfördernde Wirkung, lasse das Stresshormon Cortisol sinken. Doch der Mensch entferne sich immer mehr von der Natur. Und dann schlägt der gebürtige Uetersener geschickt den Bogen zum eigentlichen Thema dieses Treffens: der artgerechten Ernährung, die viele Zivilisationskrankheiten vermeiden und sogar heilen kann.

Gesundheit: Ernährungsmediziner Riedl warnt vor Palmöl

„Der Mensch ist keinesfalls ein Allesfresser, wie oft fälschlicherweise angenommen wird. Heute wissen wir ganz genau, welche Nahrung der menschliche Körper benötigt und welche nicht. Fleisch brauchen wir definitiv nicht“, sagt der 59 Jahre alte Mediziner. Im Gegenteil: Es mache sogar krank. Besonders zu viel rotes Fleisch und Wurstwaren seien Ursachen für Volkskrankheiten wie Diabetes, Bluthochdruck, Gicht und Fettleibigkeit. „Wir kennen mittlerweile mehr als 80 verschiedene Indikationen von ernährungsbedingten Krankheiten.“

Auch Fertigprodukte sollten tunlichst vermieden werden. „Jedes zweite Produkt im Supermarkt enthält Palmöl. In großen Mengen wird es zum Problem und kann bei Krebs beispielsweise Metastasen fördern“, sagt der Mediziner. Der Mensch habe verlernt, sich intuitiv artgerecht zu ernähren. Das Problem sei auch ein Politisches: So dürften die Bereiche Ernährung und Landwirtschaft nicht in einem Ministerium zusammengeführt werden, wenn man Lobbyismus seitens der Nahrungsmittelindustrie vermeiden wolle. Ernährung sei besser im Gesundheitsministerium aufgehoben.

Was unser Körper vor allem braucht, ist Gemüse. „Pflanzliche Kost sollte die Basis sein. Dazu kommen Eiweiße“, sagt Riedl, der seit 2013 regelmäßig gemeinsam mit seinen Kollegen Anne Fleck und Jörn Klasen als Ernährungs-Doc beim NDR die Möglichkeiten der Ernährungstherapie an konkreten Patientenfällen verdeutlicht. Gemüse und Kräuter stecken voller sekundärer Pflanzenstoffe, die Zellen schützen, antibakteriell wirken, Immunabwehr und Herzgesundheit stärken. Der Experte empfiehlt, davon rund 500 Gramm am Tag zu sich zu nehmen.

Viele Deutsche essen zu viele Kohlenhydrate

Das Maß an Kohlenhydraten, das der Durchschnittsbürger in Form von Brot, Kuchen oder Kartoffeln zu sich nehme, sei lediglich für Sportler mit hohem Energiebedarf empfehlenswert, führe bei einem Büroangestellten aber schnell zu Übergewicht. Und das berge zahlreiche Gesundheitsrisiken wie Diabetes, Bluthochdruck, Schlaganfall, Herzinfarkt. Auch viele Krebsfälle gelten laut Riedl als ernährungsbedingt. Damit stellt er sich gegen die seiner Auffassung nach zu kohlenhydratlastigen Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung und der Deutschen Diabetesgesellschaft.

„Es ist ein großes Problem in der Medizin, dass nicht klar Stellung bezogen wird, wie wir uns ernähren sollen“, sagt Riedl. Die vielen unterschiedlichen Empfehlungen von Trennkost über Paleo bis hin zu Low Carb und Diäten verunsicherten die Menschen. Dabei gebe es aus Sicht eines Ernährungsmediziners keine Zweifel darüber, wie sich der Mensch gesund ernähren kann.

+++Hier geht es zum Podcast mit Matthias Riedl zum Thema Diabetes+++

Auf dem Gebiet der Ernährungsmedizin gilt Riedl als Vorreiter. 2019 wurde Riedl vom Bund Deutscher Ernährungsmediziner (BDEM) mit dem Therapiepreis für seine Leistungen um die Förderung der Ernährungsmedizin in Öffentlichkeit und Gesundheitspolitik ausgezeichnet. Bis dahin war es ein steiniger Weg. „Ich habe 20 harte Jahre hinter mir, in denen ich von anderen Ärzten oft belächelt wurde“, sagt er. Die Vorwürfe reichten von anstrengend bis Scharlatan, auf internationalen Medizin-Kongressen wurde er immer wieder diskreditiert.

Ärzte verschreiben häufig zu schnell Insulin

Riedl absolvierte 1989 in der heutigen Regio-Klinik in Pinneberg seine Facharztausbildung zum Internisten und arbeitete als Notarzt, ehe er dort ein Zentrum für stationäre Diabetesbetreuung gründete. Einen Fall aus seiner Anfangszeit als Arzt hat er nicht vergessen: „Ich musste einer 17-Jährigen sagen, dass sie Diabetes Typ 2 hat und künftig Insulin spritzen muss“, erinnert sich Riedl. Er sollte ihr ein Buch zu dem Thema überreichen. Mehr Unterstützung war damals nicht vorgesehen. „Diabetes Typ 2 galt damals als nicht heilbar“, so der Vater zweier erwachsener Söhne. Das sei mittlerweile widerlegt.

Mit gezielter Ernährungsumstellung lasse sich der Blutzuckerspiegel regulieren. Eine effektive Ernährungstherapie werde dem Großteil der deutschen Typ-2-Diabetiker aber vorenthalten. Das empfindet Riedl als große Ungerechtigkeit. Die verfrühte Insulintherapie führe zu einer Spirale aus Gewichtszunahme und – daraus resultierend – immer weiteren Insulin-Dosissteigerungen. Diese Behandlungsweise erhöhe die Sterblichkeit. Das zu ändern, sehe er als seine Mission.

1999 wurde Riedl gebeten, die Privatisierung der Diabetiker Zentrale Hamburg, eine Einrichtung des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen, zu einer Diabetesschwerpunktpraxis mitzugestalten. 2007 baut er als Gründer, Alleingesellschafter und ärztlicher Direktor die Schwerpunktpraxis für Diabetiker zu einem interdisziplinären medizinischen Versorgungszentrum für Diabetologie, Ernährungsmedizin, Kardiologie, Psychotherapie, Allgemeinmedizin, Augenheilkunde, Parodontologie und Geriatrie aus. Heute ist das Medicum Hamburg das größte Fachzentrum seiner Art in Europa.

Per App Essgewohnheiten analysieren und verbessern

„Es gibt deutschlandweit etwa 100 ernährungsmedizinische Praxen“, sagt Riedl. Viel zu wenige, um den Bedarf zu decken, findet er. Dabei könnte eine breite Versorgung durch Ernährungsmediziner das Gesundheitswesen stark entlasten. Darum beteiligt sich das Medicum Hamburg an der Ausbildung von Medizinstudenten.

Wer grundsätzlich etwas ändern möchte, weil er sich gesünder ernähren möchte oder abnehmen will, muss nicht sein gesamtes Essverhalten umkrempeln. „Eine Veränderung von nur 20 Prozent der normalen Essgewohnheiten reicht aus“, sagt Riedl, der das 20:80-Prinzip geprägt und in mehreren Büchern erläutert hat. Das Gehirn brauche Zeit, um Routinen aufzugeben.

Sein neuestes Projekt: Die neue App myFoodDoctor wurde von Riedl und seinem Expertenteam im Medicum Hamburg entwickelt und kam Anfang 2021 auf den Markt. Sie soll dabei helfen, nachhaltig schlank, gesund und fit zu werden. „Es ist keine Diät. Man muss nicht hungern, sondern es geht darum, sich gesünder zu ernähren und so Übergewicht zu verlieren.“ Riedl empfiehlt die App Menschen mit Diabetes, Adipositas und Bluthochdruck.

Der Download und das individuelle Ernährungstagebuch sind kostenlos. Die Vollversion der App kostet dann 7,99 Euro im Monat oder 69 Euro im Jahr. Bei den Krankenkassen hat Riedl einen Antrag eingereicht, dass dieser Ernährungswegweiser als Präventivleistung anerkannt wird. Dann könnten Kosten von den Kassen erstattet werden. Eine Entscheidung steht noch aus.

Lesen Sie am Sonnabend: Das sind die zehn gesündesten Lebensmittel, die Ernährungsmediziner Matthias Riedl empfiehlt