Deutschlands einzige Hochseeinsel wird zum Servicezentrum für Offshore-Windparks. Viele Einheimische fürchten, dass darunter der Tourismus leidet.

Helgoland. Wenn der Abend kommt, nähern sich die Katamarane. Einer nach dem anderen läuft, von Norden her, im Fahrwasser zwischen der Hauptinsel und der Badedüne hindurch gemächlich den Hafen von Helgoland an. Blau sind sie, grau oder auch orange. An den Molen im Vorhafen machen die Boote fest. Später am Abend sieht man müde Männer in wasserfesten Arbeitshosen und Sicherheitsschuhen durch die Straßen der Insel gehen. Es sind Mechaniker von Offshore-Windparks auf dem Weg zu ihren Nachtquartieren. Früh am Morgen werden sie wieder hinausfahren, um auf dem Meer an Deutschlands Energiewende zu bauen.

Es geschieht etwas auf Helgoland, der einzigen deutschen Hochseeinsel, die in den vergangenen zwei Jahrhunderten nacheinander ein Sehnsuchtsort des Patriotismus war, ein Hort des Militarismus und schließlich ein Anziehungspunkt des Massentourismus. Nun wird die Insel ausgebaut zu einem Servicezentrum für drei Offshore-Windparks, die derzeit im Abstand von 25 bis 39 Kilometern nördlich des Buntsandsteinfelsens in der Nordsee entstehen. Insgesamt 208 Windturbinen der Betreiber WindMW, RWE Innogy und E.on sollen sich in den Offshore-Parks Meerwind Süd/Ost, Nordsee Ost und Amrumbank West künftig drehen und Strom für fast eine Million Haushalte liefern. Helgoland mitten in der Deutschen Bucht bietet ideale Bedingungen, um die nötigen Servicemechaniker für die Anlagen möglichst nah von ihren Einsatzorten zu stationieren.

Einer, der das früh erkannt hat, ist Bürgermeister Jörg Singer, 47. In seinem Arbeitszimmer in der Gemeindeverwaltung erklärt er, warum er den Ausbau der Infrastruktur für die Windparks vorantreibt. „Wir werden die erste Offshore-Serviceinsel der Welt“, sagt er. „Das bringt uns künftig allein 15 Millionen Euro Gewerbesteuer zusätzlich im Jahr und einen kräftigen Modernisierungsschub.“ Das allerdings sorgt auf Helgoland auch für Ärger: Moderner wollen viele Einheimische gar nicht leben. „Die Fischer ärgern sich, dass ihnen die Katamarane die Anlegeplätze für ihre Börteboote wegnehmen, die Kutter, mit denen auch die Touristen aus den Bäderschiffen an die Molen übergesetzt werden“, sagt Singer. „Und im Fremdenverkehr sind viele skeptisch, ob die Kapazitäten für die Touristen hier künftig noch ausreichen.“

Singer kennt die Befindlichkeiten bestens. Er selbst ist unübersehbar ein Teil des Fortschritts auf der Insel. Mit seiner schwarzen Randbrille, der Designerkleidung und den gegelten Haaren sieht er aus wie ein Eventmanager. Jahrelang lebte er mit seiner Familie als Unternehmensberater in München, auch in den USA hatte er gearbeitet. Als Jugendlicher war er auf Helgoland zeitweise zur Schule gegangen, während sein Vater auf der Insel arbeitete. Später heiratete Singer eine Helgoländerin. Durch seine Kontakte auf die Insel, unter anderem zu seinem Vorgänger im Amt, wurde er auf die Idee gebracht, Bürgermeister von Helgoland zu werden. Mit knapper Mehrheit im Januar 2011 gewählt, war sein erstes Projekt sogleich die große Offshore-Offensive.

Mit 30 Millionen Euro – 22 Millionen Euro davon Fördermittel, der Rest ein Kommunalkredit – sollen der Vorhafen und das Südhafengelände für die neuen Zeiten ertüchtigt werden. „Im November 2011 haben wir das Projektpaket gemeinsam mit der Landesregierung in Kiel verabschiedet“, sagt Singer. „Zuvor gab es noch ausführliche Diskussionen mit den Einwohnern, ob die Fördermittel nicht lieber in neue Hotels am Hafen investiert werden sollten.“ Nun aber kommt die Offshore-Branche, und Singer wähnt sich damit auf dem richtigen Weg. „Helgoland ist letztlich auch eine Marke, eine Firma“, sagt er. „Die neue Aufmerksamkeit ist für die Insel eine riesige Chance.“

Die Zahlen geben ihm recht. Mehr als 700.000 Gäste kamen noch in den 1970er-Jahren jährlich. Doch je mehr touristische Ziele in aller Welt für die Deutschen erreichbar wurden, desto weniger besuchten das im Volksmund als „Fuselfelsen“ verspottete Eiland mit all seinen Schnapsläden und Boutiquen. Im vergangenen Jahr waren es noch 314.000 Gäste, für dieses Jahr erwartet Singer 320.000. Der Bürgermeister will den Trend umdrehen, die Zahlen zumindest langfristig stabilisieren. „Die Offshore-Branche wird auch andere Wirtschaftszweige wie den Tourismus und die Verkehrsanbindungen hier beflügeln“, sagt er. Einen Erfolg verbuchte die Inselverwaltung in dieser Woche. Nach langer Diskussion bekommt Helgoland im Winter mehr Schiffsverbindungen. Die Gemeindevertretung stimmte am Donnerstagabend dafür. Zwischen November und März sind 70 zusätzliche Fahrten geplant. In einer zweijährigen Testphase soll die Reederei Cassen Eils sechsmal in der Woche von Cuxhaven aus die Hochseeinsel ansteuern, bisher waren es vier Fahrten. „So könnte Helgoland zur Ganzjahres-Urlaubsinsel werden“, sagt Singer.

An einem schönen, sonnigen Sommertag sieht auf Helgoland alles so vertraut aus wie immer. Im Hafen liegen sechs weiße Bäderschiffe. Sie bringen von Häfen an der Nordseeküste täglich bis zu 2000 Touristen, die sich auf der Insel im wahrsten Sinne des Wortes ausbooten lassen. Das Übersetzen von der Ankerposition im Hafen an die Kais gehört fest zum Ritual einer Helgolandfahrt, außer mit dem Katamaran „Halunder Jet“, der aus Hamburg kommt und der direkt an der Mole anlegt. Von den Schiffen bewegen sich Scharen von Touristen durch die Gassen der Unterstadt, vorbei an mehrwertsteuerfreien Einkaufsparadiesen wie der „Cigar & Whisky World“, „All you need“ oder „Juwelier M. Alladin“, vorbei an Stapeln von Zigaretten, Schnapsflaschen, Fünf-Kilo-Nutella-Gläsern hin in Richtung des Fahrstuhls. Der bringt die Besucher für 60 Cent je Einzelfahrt und 95 Cent mit Retourticket in wenigen Sekunden vom Unterland ins Oberland.

Am oberen Ausgang steht Hans-Jürgen Hupfeld und betrachtet den Strom der Touristen. In seiner roten Windjacke und der karierten Dreiviertelhose sieht der 78-Jährige weit erholter aus als viele der Besucher. Hupfeld achtet im Auftrag des Herstellers darauf, dass der Fahrstuhl betriebsbereit ist. Viele Jahre lang hatte Hupfeld nahe dem Aufzug das Restaurant Zum Hamburger betrieben. Den Stress der Gastronomie will er sich heute nicht mehr antun, doch den Fremdenverkehr auf der Insel verfolgt er genau. „Viele hier glauben nicht an Offshore“, sagt er. „Die Einheimischen hatten sich anfangs mehr davon erwartet, vor allem, dass sich die Leute, die auf den Windparks arbeiten, auch hier ansiedeln, Familien gründen.“ Was man bislang gesehen habe, stimme wenig optimistisch: „Die Offshore-Branche ist hier ja mehr oder weniger auf der Durchreise, auf Montage. Aber sie verändert die Insel, mit neuen Bauten, mit viel Lärmbelästigung durch Hubschrauberverkehr.“ Gut 250 von insgesamt 2000 Hotel- und Pensionsbetten auf der Insel seien mittlerweile von den Energieunternehmen belegt. „Wenn es gut geht, haben wir in einigen Jahren nach dem Offshore-Boom vielleicht wenigstens eine nette Tennishalle und neue Bootsanleger.“

Einer, der Zimmer für die neue Zeit vermietet hat, ist Arne Weber, 69. Der Hamburger Unternehmer betreibt Helgolands einziges Vier-Sterne-Hotel, das Atoll am Hafen direkt in Sichtweite der Bäderschiffe. Für zehn Jahre wird das Unternehmen WindMW nun die 49 Zimmer mit der kompletten Logistik des Hotels drum herum für seine Servicetechniker nutzen. Weber steht auf dem Oberland und schaut über die Insel und das Meer. „Die Helgoländer sind konservativ, sie mögen Veränderung nicht“, sagt er. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben sich die Insulaner ihren Felsen zurückerobert. Die Briten wollten Helgoland im Jahr 1947 mit der bislang größten nicht-nuklearen Explosion komplett sprengen, doch der Buntsandstein hielt stand. Bis 1952 blieb die Insel Sperrgebiet und Bombenabwurfplatz für die britische Luftwaffe.

Nach der Wiederbesiedlung musste Helgoland komplett neu aufgebaut werden. Einen großen Teil dieser Arbeit übernahm das Unternehmen HC Hagemann, das Weber in dritter Generation führt. Seine Mutter und seine Großmutter stammten von der Insel, seine Mutter führte dort bis zu ihrem Tod Anfang 2012 im Alter von 99 Jahren eine Pension. Webers Verbindung zu Helgoland ist intensiv und konfliktreich. Aufmerksamkeit weltweit erregte er 2008 mit dem Vorschlag, die Hauptinsel durch eine Aufspülung mit der Badedüne gegenüber zu verbinden und dadurch Bauland zu gewinnen. Die Helgoländer lehnten das nach langer Debatte mit knapper Mehrheit ab. Den nächsten Coup landete er 2012 mit der Vermietung des Atoll an WindMW. Es war das bis dahin lauteste Signal dafür, dass auf Helgoland eine neue Zeit anbricht. „Es war vor allem im Winter immer schwierig, das Atoll auszulasten“, sagt Weber. „Jetzt wird es für zehn Jahre zu 100 Prozent genutzt. Einen solchen Glücksfall erlebt man als Hotelier selten.“

Auch sonst ist Weber mit dem Helgoländer Offshore-Boom gut beschäftigt. HC Hagemann betreibt auf der Insel die einzige Betonmischanlage. Weber zeigt von einem Spazierweg am Oberland aus auf den Südhafen. Eine Ansammlung von blauen Baugeräten verweist auf die Aktivitäten seiner Firma. Neben der neuen Servicehalle, die RWE von einem Harener Unternehmen errichten lässt, baut HC Hagemann ein Wartungscenter für WindMW. Auch E.on will am Südhafen bauen. „Diese große Fläche da unten war lange Zeit ein Brachland“, sagt Weber. „Nun ist es das Industriegebiet von Helgoland.“

Knut Schulze und seine Mitarbeiter wollen es mit Leben füllen. Der 42-jährige Architekt und Projektleiter bei WindMW sitzt in der Lobby des Hotels Atoll. Alles ist ruhig, das helle, moderne Gebäude beherbergt eine geschlossene Gesellschaft. Morgens holen sich die WindMW-Mechaniker, die am Aufbau des Windparks beteiligt sind, am Büfett ihr Frühstück und Verpflegung für unterwegs. Nach der Schicht auf See bereitet die Hotelküche den Rückkehrern ein kräftiges Abendessen zu. „Die Anmietung des Atoll war für uns ein Signal an die Bevölkerung, dass wir uns hier langfristig engagieren wollen“, sagt Schulze. „Die Stimmung auf der Insel ist nach wie vor je zur Hälfte für und gegen die Ansiedlung der Offshore-Wirtschaft.“ Neben dem politischen Signal hat die schicke Residenz für das Unternehmen viel praktischen Nutzen. 14 Tage werden die Techniker von WindMW künftig im regulären Servicebetrieb auf Helgoland sein, 14 Tage haben sie dann frei: „Am Arbeitsmarkt für Offshore-Techniker gibt es keinen Überschuss. Wir wollen unseren Mitarbeitern mit dieser Unterkunft etwas bieten.“

Gegenüber des Atoll, in der Kneipe Cohibar, stehen am Abend einige Männer am Tresen und trinken ihr Bier. Die Decke des Raums ist mit Zigarrenkisten beklebt, Zigarettenrauch steht in der Luft. Wirtin Renate Obermaier kennt und schätzt Helgoland seit langer Zeit. Nach einigen Jahren in Italien kehrte sie an ihre Wirkungsstätte in der Cohibar zurück, heute allerdings mit neuem Publikum. „Die Jungs von den Windpark-Untenehmen sind ja wirklich nett“, sagt sie. „Aber die Hotelbetten fehlen dem Tourismus hier schon.“