Spektakulärer Landeversuch einer Boeing 737 vor 40 Jahren auf Helgolands Flugplatz. Flugkapitän wurde erst degradiert und machte später Karriere

Der Versuch, ein 30 Meter langes, bis zu 50 Tonnen schweres Mittelstrecken-Verkehrsflugzeug auf einer 400 Meter kurzen Schmalspur-Landebahn aufzusetzen, ist vergleichbar mit dem Bemühen eines Elefanten, sich in einem Mauseloch zu verkriechen: Es passt nicht. Während das Rüsseltier also an der Enge des Mausverstecks scheitern muss, ist das Landemanöver - jedenfalls teilweise - geglückt. Und dazu noch unter erschwerten Bedingungen: Denn das Ziel des Anflugs liegt in der Nordsee, mitten in der Deutschen Bucht, auf Helgoland-Düne, dem Sandkasten der sonst von rotem Fels geprägten Hochseeinsel.

Ereignet hat sich das fliegerische Husarenstück vor 40 Jahren - im Frühjahr 1973. Beteiligt an dem spektakulären Anflug waren eine Boeing 737 der Lufthansa sowie als verantwortlicher Pilot ein Flugkapitän des größten deutschen Luftfahrtunternehmens. Auf der Insel und bei Luftfahrtfans kursieren höchst widersprüchliche Versionen des "Aus-Flugs" nach Helgoland. Die Pinneberger Regionalredaktion des Abendblatts hat die Fakten zusammengetragen und zwei Flugkapitäne, die Erfahrung auf der Boeing 737 haben als Experten befragt. Sie möchten ihre Namen nicht preisgeben. Bei den Recherchen ist klar geworden, dass - entgegen kursierenden Internet-Beiträgen - an Bord der 737 keine Passagiere waren, als der Landeanflug auf Helgoland-Düne begann. Die Boeing befand sich vermutlich auf einem technischen Überprüfungsflug oder im Pilotentraining.

Der Flugplatz Helgoland-Düne verfügt über keinerlei elektronische Anflughilfen. Alle Maschinen, die dort landen und starten, werden von den Piloten nach den sogenannten Sichtflugregeln, englisch: Visual Flight Rules (VFR), gesteuert. Mit großen Verkehrsflugzeugen, wie der Boeing 737 der Baureihe 200, die 1973 für die Lufthansa im Einsatz war, sind auf Flughäfen mit ausreichend langen Landebahnen, auch VFR-Sichtanflüge möglich. "Das wird regelmäßig trainiert", sagt einer der befragten Flugkapitäne. "Von daher ist der Sichtanflug mit einer 737 keine besondere fliegerische Leistung."

Allerdings zeuge es von navigatorischem Können, von Bord des Jets (Reisegeschwindigkeit rund 900 Kilometer pro Stunde) den kleinen Landeplatz auf Helgoland-Düne zu entdecken. Allenfalls das Helgoland-Funkfeuer könnte bei der Grob-Orientierung hilfreich gewesen sein.

Das Ziel ist also ausgemacht, die 737-200 geht in den Sinkflug über. Der Captain zieht die Schubhebel des zweistrahligen Düsenflugzeugs zurück, um das Tempo zu reduzieren. Dem Kommandanten im Cockpit der 737 ist klar, dass eine Landung auf Helgoland-Düne nicht möglich ist. Der Kapitän steuert trotzdem die Piste 15/33 an, mit damals 400 Metern die längste der drei Landebahnen. Um eine 737 aufsetzen und ausrollen lassen zu können, ist eine reine Landerollstrecke von 1207 Metern erforderlich. Dessen ungeachtet meldet sich der Lufthanseat bei "Helgoland Info" über Sprechfunk an. Im Tower des Dünen-Flugplatzes sitzt kein Fluglotse mit Weisungskompetenz für den Luftverkehr. Der Flugleiter, so die Bezeichnung des Diensthabenden, gibt lediglich Informationen über die zu benutzende Landebahn und die Winddaten heraus. Damals war es die Piste 15 in Richtung 150 Grad Kompasskurs, also südöstlich.

Als der Kapitän der Boeing seinen Anflug ankündigt, soll der Flugleiter "na, denn man los" oder Ähnliches gesagt haben. Manche Helgoländer vermuten, dass der Mann im Turm den Funkspruch aus dem Lufthansa-Jet für einen Scherz gehalten hat. Der Pilot der 737 meint es ernst. "Captain Windhund", sein richtiger Name wird nicht bekannt, verringert das Tempo weiter. Er fährt die Landeklappen für den Langsamflug aus und dann das Fahrwerk. Mit einer Landegeschwindigkeit von etwa 220 Kilometer pro Stunde schwebt der Jet über der 30 Meter breiten Betonbahn ein. Im Anflug auf die 400-Meter-Piste muss der Pilot immer wieder den Schub der Triebwerke korrigieren. Kurgäste und Bewohner bleiben stehen und hören das Jaulen der Düsentriebwerke. Sie erleben, wie die 737 mit qualmenden Reifen mit dem Hauptfahrwerk auf der Landebahn aufsetzt. Ein Zuschauer macht Fotos.

Noch bevor das Bugrad aufsetzen kann, wird der Jet wieder beschleunigt. "Das muss sich alles in wenigen Sekunden abgespielt haben. Im Cockpit gab es reichlich zu tun", rekonstruieren die befragten Flugkapitäne das Manöver. Kurz vor dem Aufsetzen mit dem Hauptfahrwerk müsse der Pilot wieder Vollgas gegeben haben. Gleichzeitig seien die voll ausgefahrenen Landeklappen von der 40-Grad-Stellung auf etwa die Hälfte zurückgefahren worden. Sonst hätte es der Kapitän nicht geschafft, die Maschine auf der kurzen Bahn wieder abheben zu lassen. Nach dieser Beschreibung, die von den Bildern eines unbekannten Fotografen bestätigt wird, war die Beinahe-Landung kein "Touch and Go", wie in der Fliegersprache das vollständige Aufsetzen und Durchstarten bezeichnet wird. "Baulked Landing" (gescheiterte oder gestörte Landung) heißt bei den Piloten die auf der Düne vollzogene Prozedur. "Das war fliegerische Unzucht", kommentiert ein befragter Flugkapitän das Verhalten des Kollegen. Als "leichtsinnig und überzogen" bewertet der zweite Captain das Manöver: "Die Piste hätte einbrechen können, das hätte eine Katastrophe gegeben." Die Landebahn auf Helgoland sei nur für Flugzeuge bis 5,7 Tonnen, nicht aber für knapp 50 Tonnen Gewicht zugelassen. Flugzeug, Besatzung und Zuschauer kommen ohne Blessuren davon. Mit donnernden Triebwerken steigt die Maschine gen Himmel. Nach kaum einer Minute ist der Spuk vorüber. Monatelang sind die Spuren des Reifenabriebs auf der Landebahn zu sehen. Der Helgolandtrip hat Folgen: Der Flugleiter verlor seinen Job, erinnern sich Insulaner. "Captain Windhund" kommt mit einem blauen Auge davon. Der Pilot wird von der Lufthansa degradiert. Der Flugkapitän muss für ein paar Jahre wieder rechts im Cockpit sitzen, als Kopilot. Später macht er Karriere bei der Airline, fliegt als Kapitän auf Langstrecken den riesigen Jumbo-Jet, die Boeing 747.

Vor zwei oder drei Jahren meldete sich ein älter Herr im Tower bei Flugleiter und Flugplatz-Geschäftsführer Thorsten Probst-Engelhardt: "Er gab sich als der Kapitän der Boeing 737 zu erkennen. Seinen Namen wollte er nicht nennen." Der Besucher gab an, vorher nie auf Helgoland gewesen zu sein, abgesehen von einer luftgestützten Stippvisite. Das Manöver von 1973 sei dem pensionierten Flugkapitän heute peinlich, sagt Probst-Engelhardt. Umso mehr, da dessen Sohn inzwischen Pilot der Lufthansa sei . . .