In Haseldorf hat die Familie Hamster 50 Jahre lang die Halme an der Elbe geerntet. Jetzt ist Schluss. Denn der Fluss hat sich sehr verändert.

Haseldorf. "Annegret" ist jetzt in Rente. Hoch und trocken liegt sie aufgebockt in einer Halle hinter einem alten Haseldorfer Deich. Ihre Zeiten auf der Elbe sind vorbei. Mehr als 70 Jahre hat das grüne Motorboot nun auf dem Buckel. Äußerlich hat ihm die Zeit nicht viel anhaben können. Zwar wirkt sein Rumpf schon etwas behäbig. Aber seine Außenhaut ist gut in Schuss, und das Holz glänzt frisch gestrichen.

"Annegret" hat sich ihren Ruhestand redlich verdient, finden ihre Eigentümer, die Hamsters aus Haseldorf. "Und wir auch", sagt Annegret Hamster, 62, mit einem Lächeln. Annegret wie "Annegret". Das Motorboot wurde nach ihr benannt. "Weil ich gerade geboren worden war, als mein Vater das Boot kaufte."

1950 brauchte Hans Reiken eine "Annegret", um das Reet, das er im Süßwasserwatt der Binnenelbe schnitt, zu transportieren: "Packreet" für die Baumschulen, "Dachreet" fürs Alte Land und "Böttcher-Schilf" schockweise (Bündel à 60 Stück) für die Fassmacher. Reet war ein Zubrot für die Familie des Bandreißers, der nebenbei noch eine kleine Imkerei, einen Apfelhof und ein bisschen Viehwirtschaft betrieb. "Wir mussten von dem leben, was die Natur hergab", sagt Annegret Hamster.

Anfang der 60er-Jahre entdeckte Hans Reiken ein neues Zubrot: die Binsen. "Das war etwas ganz anderes als das Reet, das er vorher geschnitten hatte", sagt Annegret Hamster. "Binsen sind grüne, runde, blatt- und knotenlose, markgefüllte Halme, die sich im Gegensatz zum Schilf wunderbar flechten lassen." Biologisch korrekt heißen sie Salz-Teichsimsen (lat. Schoenoplectus tabernaemontani) und gehören zur Familie der Sauergrasgewächse. "Wir nannten sie aber immer nur blaue Binsen", sagt Hamster. "Weil die Halme so hübsch blaugrün schimmern."

Im Fährmannssander Watt zwischen Wedel und Hetlingen schnitt Hans Reiken 1962 seine ersten blauen Binsen. Ein Cousin hatte ihn mitgenommen. Auf eigens dafür gepachteten Flächen im Watt durften die Männer die Halme zwischen Mitte Juli und Ende August ernten. Mit ihnen waren zeitgleich zwölf andere Familien aus den "H-Dörfern" Haseldorf, Haselau und Hetlingen als Binsenbauern unterwegs. Sie alle ernährte das unscheinbare Sauergrasgewächs.

+++ Mit dem Tidenkieker durch die Binnenelbe bis zur Insel Pagensand +++

+++ Elbufer in Haseldorf und Hetlingen wird natürlicher +++

Ein Jahr später pachtete Hans Reiken eigene Flächen vor der Elbinsel Pagensand. Die Bandreißerei musste er mangels Nachfrage aufgeben. Seine Binsen aber fanden reißenden Absatz. Niedersächsische Möbeltischlereien in Ammerland und Worpswede rissen sich um die hochwertige Elbbinse und bestellten Monate im Voraus. "Der Mercedes unter den Binsen wurde die Salz-Teichsimse immer genannt", erinnert sich Annegret Hamster, die seit ihrem zwölften Lebensjahr bei der Ernte mithelfen musste.

Während die Männer mit Boot und Schleppkähnen bei Flut ins Watt fuhren, blieben die Frauen zu Hause und kochten vor. Wenn die Männer dann zurückkehrten, luden sie die zu je 20 Kilo zusammengebundenen, nach Elbe und Schlick duftenden, nassen Halme ab. "Wir Frauen mussten sie dann auseinanderziehen und zum Trocknen auf die Wiesen legen", sagt Annegret Hamster. Dann hieß es warten, bangen und hoffen. "Warten auf die Sonne, bangen vorm Regen und hoffen auf schnelles Trocknen." Nur knochentrockene Binsen sind lagerfähig, und nur sonnengetrocknete Binsen schimmeln nicht.

1978 brach das mühsame Geschäft ein. Im Zuge der siebten Elbvertiefung (1974-1978) wurden die Flächen rund um Pagensand acht Meter hoch mit Sand auf- und die Binsen damit weggespült. Hans Reiken gab auf, konnte nicht mehr. 58 Jahre war er alt und stark angegriffen von der lebenslangen harten Arbeit. Aber Annegret stieg ein. Zusammen mit ihrem Mann Peter Hamster, heute 70, übernahm sie neue Flächen am Fährmannssander Watt und an der Insel Auberg Drommel, führte die Binsenbauerei im Nebenerwerb weiter und zog ihre beiden Söhne Sönke, jetzt 41 Jahre alt, und Gunnar, 38 Jahre, groß, während ihr Mann als Angestellter im öffentlichen Dienst die Familie ernährte.

"Ich wollte das nicht aufgeben", sagt Annegret Hamster. "Die Binsen gehörten einfach zu unserer Familie." Und diese zog mit. Nicht einen Sommerurlaub konnten die Hamsters in den vergangenen 50 Jahren machen. Jeder freie Tag im August und September ging für die Binsen drauf. Die Söhne halfen begeistert mit, später ebenso die Schwiegertöchter, gute Freunde und dieses Jahr auch die Sönkes Söhne Jannik, 16, und Nico, 14.

Zum ersten und zum letzten Mal. Denn dieses Jahr war Familie Hamsters letzte Saison - und "Annegrets" letzte Fahrt. Gunnar Hamster, der 2002 das Ernten den Eltern abgenommen hatte, gibt auf. Weil es kaum mehr etwas gibt, das er schneiden kann. "Die Ernte wurde von Jahr für Jahr schlechter", sagt Annegret Hamster. "Und die Qualität auch." Standen die Binsen früher noch 2,80 Meter hoch, sind es heute gerade zwei Meter. Und statt daumendick und biegsam sind die Halme dünn und hart - fast zu hart zum Flechten.

Warum das so ist, kann Annegret Hamster nur vermuten. Zum einen liegt es wohl an der inzwischen wieder guten Wasserqualität der Elbe. "Die Binse liebt nährstoffreiches Wasser - darum wird sie auch in Klärwerken als natürlicher Filter eingesetzt." Vielleicht findet sie nun nicht mehr genug Nährstoffe.

Zum anderen dient sie selbst als Nahrungsquelle. Seit die Haseldorfer Binnenelbe im Jahr 1984 unter Naturschutz gestellt wurde, hat sich die Zahl der Grau- und Nonnengänse stark erhöht. "Die Vögel lieben den süßlichen Geschmack der Binsenwurzeln und fressen die Binsen einfach weg", sagt Annegret Hamster.

Und zum dritten dürften die Elbvertiefung und die damit einhergehende gestiegene Strömungsgeschwindigkeit nicht unschuldig an dem Rückgang der Binsen sein. Durch den Sog wird Sand aufs Watt gewirbelt. "Dort, wo wir früher beim Schneiden mit Gummistiefeln knietief im Schlick standen, stehen wir heute in Turnschuhen auf hartem Sand", sagt Annegret Hamster. Traurig ist sie nicht. Erleichtert irgendwie auch nicht. Eher pragmatisch optimistisch. "Wenn da nichts steht, kann man nun mal auch nichts schneiden."

Aber sie ist stolz auf das, was ihre Familie die letzten 50 Jahre geleistet hat. An diesem Sonntag, den 9. September, feiern die Hamsters nicht nur ihre letzte Saison, sondern auch ihr 50-jähriges Firmenbestehen. Ein Handwerk stirbt aus: Die Hamsters waren nach eigenen Angaben die letzten Binsenschneider in Norddeutschland.

Anlässlich des "Tages des offenen Denkmals" bittet die Familie am Sonntag ab 12 Uhr in die Haseldorfer Bandreißerkate (Achtern Dörp 3, 25489 Haseldorf) zur Fotoausstellung der Fotografin Elisabeth-Juliane Herrmann ( www.haseldorfer-marsch.de ), die die Binsenschneiderei in Haseldorf zeigt.

Trotz des Firmenendes blickt Annegret Hamster fröhlich in die Zukunft. Die Frau freut sich auf ihren ersten freien Sommer 2013 und ist viel beschäftigt mit Reise- und Literaturführungen im Haseldorfer Herrenhaus.

Und die "Annegret"? Das Boot bleibt da, wo es ist. "Denn wer weiß schon, was die Zukunft bringt?", sagt Annegret Hamster und lächelt.