Dirk Ehling startet zum zweiten Mal bei der 1200 Kilometer langen Fernfahrt Paris-Brest-Paris. Sein Ziel ist eine Zeit zwischen 60 und 65 Stunden

Das bekannteste Radrennen der Welt ist ein erbarmungsloser Ausleseprozess. 198 Fahrer aus 30 Nationen standen am 2. Juli am Start der 98. Tour de France, 167 Profis kamen 3430 Kilometer und 21 Etappen später im Ziel in Paris an. Mit Schürfwunden und ausgemergelten Gesichtern. Entkräftet. Aber auch erleichtert, den dreiwöchigen Höllenritt endlich überstanden zu haben.

Statistisch betrachtet bewältigten die Pedaleure etwas mehr als 163,3 Kilometer pro Teilstück; sie durchquerten dabei die Pyrenäen und die Alpen. In einem Tempo, das viele Hobby-Radfahrer - wenn überhaupt - nur bergab oder bei starkem Rückenwind erreichen. So wurde für Sieger Cadel Evans aus Australien am Ende der Schleife eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 39,795 Stundenkilometern notiert.

All diese Fakten sind Dirk Ehling vom Radsportclub Kattenberg bestens bekannt. Doch die für den Laien so beeindruckenden Zahlen entlocken ihm allenfalls ein müdes Lächeln; der 40 Jahre alte Extremsportler aus Tangstedt liebt es noch um einige Nuancen brutaler.

Am 21. August wird Ehling zum zweiten Mal nach 2007 bei der Fernfahrt Paris-Brest-Paris, die in der Radszene nur PBP genannt wird, starten. Hinter diesen drei Buchstaben verbirgt sich eine Tortur für Mensch und Material. Die Streckenlänge: 1200 Kilometer. Die Addition aller Steigungen: 10 000 Höhenmeter. Das Zeitlimit: wahlweise 90, 84 oder 80 Stunden.

Ins Leben gerufen wurde der sogenannte Superbrevet im Jahr 1891 vom Schriftsteller und Reporter Pierre Giffard. Mit der damals als Rennen konzipierten Veranstaltung sollte die Haltbarkeit der Ende des 19. Jahrhunderts noch äußerst skeptisch beäugten Fahrräder bewiesen werden. Profis und Amateure gingen gemeinsam auf die Strecke; schnellster Akteur bei der Premiere von PBP war nach drei Tagen und Nächten ohne Schlaf der Franzose Charles Terront. Seine Zeit: 71:22 Stunden. Ihm folgten 97 weitere Teilnehmer - der letzte kam zehn Tage nach dem Sieger an.

Eines ist geblieben: Die von Radsport-Enthusiasten als Helden verehrten, von Skeptikern als Verrückte titulierten Starter dürfen sich wie in der Pi onierzeit Randonneur - Ritter der Landstraße - nennen. Das technische Equipment und der Charakter von PBP haben sich in den vergangenen 120 Jahren indes radikal verändert.

Die Traditionsveranstaltung ist inzwischen kein Rennen mehr. Und mittlerweile nehmen ausschließlich Hobbysportler an der Fernfahrt teil. Aber für sie alle gilt nach wie vor: Wer im Pariser Vorort Guyancourt auf sein Sportgerät steigt, den Wendepunkt in der Bretagne passieren und innerhalb des Zeitlimits in die Seine-Metropole zurückkehren möchte, muss körperlich topfit sein.

Schummeln auf der Strecke ist praktisch unmöglich. In Abständen zwischen 100 und 150 Kilometern müssen Kontrollstationen angesteuert werden. Dort gibt es neben Verpflegung sowie medizinischer und technischer Betreuung einen Stempel in das eigens für diesen Zweck mitgeführte Tourenbuch. Eine weitere Überprüfung der Teilnehmer erfolgt mit einer Chipkarte. "Eigentlich könnte man das Heft in unserem High-Tech-Zeitalter getrost einmotten, aber die Franzosen sind da sehr nostalgisch", sagt Dirk Ehling.

Seine Teilnahmeberechtigung hat sich der Kaufmann im Einzelhandel für Tierfutter bei vier zwingend erforderlichen Qualifikationsfahrten über 200, 300, 400 und 600 Kilometer gesichert. Ohne glaubwürdigen Nachweis gibt es vom Veranstalter keine Zulassung.

Dirk Ehling ist für seinen zweiten Start bei Paris-Brest-Paris bestens gerüstet. "Zwar konnte ich im Winter nicht so viel trainieren, wie ich eigentlich wollte. Doch nach dem anspruchsvollen 600-Kilometer-Brevet mit Start- und Ziel in Hessisch Oldendorf hatte ich keinerlei Erschöpfungserscheinungen. Das beweist, dass ich in der Vorbereitung vieles richtig gemacht habe."

Alle logistischen Dinge, die ein Randonneur erledigen muss, hat er schon jetzt abgehakt. "Die 100 Euro Startgebühr sind überwiesen, die Fahrkarten für den Nachtzug von Hamburg nach Paris und zurück gebucht, der Zeltplatz in Versailles bestellt, der Zeitplan für die 1200 Kilometer ausgeklügelt", sagt Ehling. 2007 überquerte er nach 68:52 Stunden den Zielstrich, diesmal möchte er "nur 60 bis 65 Stunden" unterwegs sein.

Die unendlich erscheinende Strecke der Fernfahrt schreckt ihn nicht - er fürchtet etwas ganz anderes. "Wenn ich mir einen Arbeitstitel für PBP ausdenken müsste, würde ich auf ,Schlaflos im Sattel' kommen." Oder auf "Im Dunkeln droht das Aus". Denn wenn die Sonne untergeht und die Dämmerung hereinbricht, lässt die Konzentration der Fahrer nach. Unaufhaltsam kriecht dann die Müdigkeit in den Körper - die wohl größte Gefahr für die Aktiven während ihres strapaziösen Trips.

Die Müdigkeit ist die größte Gefahr für die Ritter der Landstraße

"Den Sekundenschlaf gibt es nicht nur beim Autofahren, sondern auch auf dem Rad", so Dirk Ehling, "deshalb werde ich abends und nachts möglichst nicht in einer Gruppe, sondern alleine unterwegs sein - auch wenn das Körner kostet. Das Risiko, durch einen eigenen Fehler oder aber durch Fremdverschulden zu stürzen, ist mir zu groß."

Völlig ohne Schlaf will und wird der zähe Tangstedter nicht auskommen. "Meine Marschtabelle sieht vor, die ersten 600 Kilometer bis Brest in 26 bis 28 Stunden durchzufahren, nach dem Wendepunkt einen kurzen Zwischenstopp einzulegen, schnell wieder aufs Rad zu steigen, um noch ein gutes Stück in Richtung Paris zurückzulegen. Dann werde ich mich, abhängig von Verlauf und Witterung, für zwei bis vier Stunden aufs Ohr hauen."

Doch Vorsicht: Es hat in der Vergangenheit schon Fälle gegeben, in denen erschöpfte Fahrer trotz Ausschilderung nach einem kurzen Nickerchen die Orientierung verloren, in die falsche Richtung weitergeradelt und plötzlich an einem Kontrollpunkt aufgetaucht sind, den sie Stunden zuvor bereits passiert hatten. Ehling: "Manche Starter haben deshalb vorsorglich einen Kompass in der Tasche."

Für ihre Verpflegung werden die Teilnehmer größtenteils selbst sorgen. Randonneure sind Einzelkämpfer, das hat Tradition. Es gibt unterwegs genügend Möglichkeiten, um an Tankstellen oder in Supermärkten einzukaufen. Außerdem können die Fahrer an den Kontrollpunkten je nach Bedarf den ärgsten Hunger und Durst stillen oder kleinere Wehwehchen verarzten lassen.

Wenn es nach Dirk Ehling ginge, könnte Paris-Brest-Paris sofort beginnen. Doch was kommt danach?

"Ich suche immer wieder neue Gelegenheiten, um die Grenze meiner Leistungsfähigkeit auszutesten", sagt er. Das Race around Austria, die 2000 Kilometer lange Österreich-Rundfahrt, bei der es in maximal sechs Tagen nonstop etwa 30 000 Höhenmeter zu bewältigen gilt, hat er 2009 im Vierer- und 2010 im Zweier-Team gemeistert.

Letzte große Herausforderung ist das Race across America

Somit bleibt dem Ausdauersportler als letztes großes Ziel nur noch das legendäre Race across America (4862 Kilometer/42 062 Höhenmeter) von der West- zur Ostküste der USA. Diese Veranstaltung gilt als härtestes Rennen der Welt und hat für Langstrecken-Radfahrer in etwa die Bedeutung wie das Grand-Slam-Turnier in Wimbledon für Tennisspieler oder der Ironman-Wettbewerb auf Hawaii für Triathleten.

"Um in den USA starten zu können, fehlen mir allerdings noch einige Sponsoren", sagt Ehling, der von der Norderstedter Firma Merkur-Druck finanziell ein wenig unterstützt sowie mit Material ausgestattet wird.

Das Durchqueren des Landes der unbegrenzten Möglichkeiten auf dem Rennrad ist aber nicht nur monetär, sondern auch sportlich eine Herkulesaufgabe, die sogar dem hartgesottenen Dirk Ehling Respekt einflößt. "Gegen das RAAM, in dessen Verlauf die Fahrer mehrere Klimazonen durchqueren müssen", sagt er, "ist Paris-Brest-Paris das reinste Zuckerschlecken..."