Bad Bramstedt. Depressionen, Zwangs- oder Essstörungen: Die Kliniken im Kreis Segeberg verzeichnen eine steigende Zahl an jungen Patienten.

Immer mehr Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene erkrankten seit Ausbruch der Covid-19-Pandemie 2020 an Depressionen, Zwangs- oder Essstörungen. Oft verbunden mit stark erhöhtem Suchtmittelmissbrauch, wie der Kinder- und Jugendreport der DAK zeigt. So stieg das Risiko einer Suchterkrankung allein bei depressiven Jugendlichen um das 12,8-fache.

„Wir sehen eine Zunahme von behandlungsbedürftigen Jugendlichen mit psychischen Erkrankungen, die wirklich professionelle Hilfe brauchen“, sagt Dr. Christina Teckentrup (41), Chefärztin der Psychosomatischen Klinik & Psychotherapie in der Schön Klinik Bad Bramstedt. „Das ist sowohl in Deutschland als auch in vielen anderen westlichen Industrienationen nachgewiesen, in denen es zum Lockdown gekommen ist.“

Junge Frauen im Kreis Segeberg leiden unter Essstörungen

Ein Beispiel aus der Region ist Emilia (Name geändert). Sie ist 16. Eine sehr gute Schülerin. Doch getrieben von der Angst: Ich bin nicht gut genug. Im ersten Lockdown fasst sie plötzlich den Entschluss: „Ich will sportlicher werden. Mich gesünder ernähren.“ Auf Instagram sucht Emilia nach Ernährungs- und Abnehmtipps. Setzt sich immer höhere Ziele. Fängt an, sich zu vergleichen. Und wird nach und nach dünner.

Zuhause beginnen die Streitigkeiten ums Essen. Emilia zieht sich zurück – auch von ihren Freunden. Als sie sich komplett von der Außenwelt isoliert hat und schon stark untergewichtig ist, schlagen die Eltern Alarm. Der Hausarzt empfiehlt eine stationäre Therapie und überweist Emilia zum Vorgespräch – bei Dr. Christina Teckentrup.

Therapien dauern für junge Menschen bis zu sechs Monate

Lockdown – das bedeutete damals für manche Jugendlichen Antriebslosigkeit, fehlender Tag-Nacht-Rhythmus und keine verbindliche Tagesstruktur. Die jungen Menschen schafften es einfach nicht mehr, ihren Alltag zu bewältigen.

Das Ziel während der zwei bis drei, in Ausnahmefällen bis zu sechs Monate dauernden stationären Therapie: Den Patientinnen und Patienten zwischen 14 und 18 Jahren unter anderem wieder in ihre Alltagsstruktur zu verhelfen. Mit einem Team aus Ärzten, Psychologen, Krankenschwestern, und Spezialtherapeuten unterstützt die Klinik die Jugendlichen dabei, wieder in ihr normales Leben zurückzufinden. Das geschieht sowohl in Einzel- als auch Gruppentherapie.

Wenn sie merken, so Teckentrup, dass auch andere Jugendliche dieselben Probleme haben, sei das oft schon eine Entlastung. Beispiel Essstörung: „Die jungen Patientinnen und Patienten leiden häufig selber. Die eine Seite sagt: ‚Ich will gesund werden.’ Die Essstörungs-Seite sagt: ‚Ich will auf keinen Fall zunehmen.’“

Von Anfang an würden Eltern und, wenn sinnvoll, auch Geschwister in die Therapie einbezogen. „Es geht ja nicht nur darum, dass die Patientinnen und Patienten bei uns auf Station gut klarkommen, sondern auch später zu Hause“, sagt Teckentrup. „Und die Angehörigen sollten wissen, wo sie unterstützen können und wann es eher darum geht, Autonomie zuzulassen. “

Depressionen sind bei jungen Männern verbreitet

Depressionen und Zwangsstörungen werden in der Tagesklinik Norderstedt behandelt.
Depressionen und Zwangsstörungen werden in der Tagesklinik Norderstedt behandelt. © Shutterstock/ | panitanphoto

Eine deutliche Zunahme der Anfragen verzeichnet auch Clemens Heise (61), Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Chefarzt der psychiatrischen Tageskliniken Kaltenkirchen und Norderstedt. Die jungen Patientinnen und Patienten in der Tagesklinik Norderstedt – sie verfügt über 52 Behandlungsplätze, davon 15 im Bereich der 17- bis 25-Jährigen – würden überwiegend mit Depressionen behandelt. Junge Männer, so Heise, häufig mit ergänzendem Suchtmittelmissbrauch wie Cannabis, seit dem Lockdown vermehrt auch mit nicht stoffgebundenen Süchten wie PC und Spielekonsolen. Junge Frauen mit begleitenden Essstörungen.

Hier gilt es oft, das Bewusstsein für die Erkrankung zu wecken. Wie bei Laura (Name geändert), 21, Abitur, Freiwilliges soziales Jahr, dann Studium der Betriebswirtschaftslehre. Im ersten Semester mitten im Lockdown zeigte auch sie plötzlich Rückzugstendenzen. „Als sie zu uns kam, war sie an der Grenze zum Untergewicht. Wir haben eine ausgesprochene Körper-Schema-Störung, eine Wahrnehmungsstörung des eigenen Körpers, festgestellt. Sie fand sich zu dick“, sagt Heise.

Laura wurde zehn Wochen behandelt. „Sie hat sehr davon profitiert, denn sie bekam einen Kontakt dazu, dass sie eine Essstörung hat“, sagt Heise. „In der Therapie haben wir mit ihr ganz praktisch besprochen: Was heißt zu dick? Woher kommen diese Ideale? Sie hat dann im Anschluss an die Behandlung noch eine zehnwöchige stationäre Therapie in einer psychosomatischen Klinik für Essstörungen gemacht, ihr Studium wieder aufgenommen und lebt nun ein eigenständiges Leben.“

Das Ziel während der Therapie war, das Verständnis für einen normalen Body Mass Index zu wecken. „Das können sich unsere Patientinnen und Patienten im Rahmen der Kochgruppen ganz integrativ aneignen, indem sie lernen, nahrhaft, gesund und lecker zu kochen.“ Musik-, Ergo-, Kunsttherapie, Einzelgespräche und therapeutisches Einüben von Alltagssituationen ergänzen das Konzept. Für junge Menschen mit Suchtverhalten existieren spezielle Suchthilfe-Gruppen.

Drogen spielen bei einigen der Betroffenen eine Rolle

Doch während der Behandlung in der Tagesklinik erfolge keine Kontrolle eines Suchtmittelverhaltens, sagt Heise. „Also müssen wir immer wieder an die Eigenverantwortung appellieren. Haben wir aber den Eindruck, dass das nicht mehr funktioniert, besprechen wir mit den jungen Patientinnen und Patienten, sich in eine stationäre Behandlung zu begeben. Das gibt es immer wieder.“

Wichtig sei es, sich beim Aufnahmegespräch auch das Familiensystem anzuschauen. Bei vielen Erkrankungen läge der Ursprung in der Genetik, möglicherweise aber auch im Umfeld. „Es gab schon Eltern, die selber beschlossen, sich in eine Therapie zu begeben“, sagt Heise. „Weil sie merkten, es gibt Verhaltensweisen, an denen sie arbeiten sollten.“ Denn häufig resultiere die Erkrankung der jungen Patientinnen und Patienten aus einer massiven Opposition gegen die Eltern.

Manche Erkrankungen resultieren aus Opposition zu den Eltern

„Wenn es ihnen gelingt, diese Oppositionshaltung aufzugeben und zu sagen: ‚Ich mache nicht mehr Mama und Papa für mein Schicksal verantwortlich, sondern nehme mein Leben selbst in die Hand’, dann können sie wieder positiv ins Leben treten“, sagt Heise. „Ich wünsche den jungen Patientinnen und Patienten einfach so sehr, dass sie das mit unserer Unterstützung hinkriegen.“

Auf dem Weg zur Gesundung könnten die Patienteninnen und -patienten nur einen Teil des Weges begleiten werden, sagt Christina Teckentrup von der Schön-Klinik abschließend. Um nicht gleich wieder in alte Verhaltensmuster zu verfallen, dauere der endgültige Weg aus der Erkrankung meistens noch ein Stückchen länger. „Wichtig ist, dass wir im Anschluss an die stationäre Behandlung nach individueller Absprache mit den Patientinnen und Patienten rechtzeitig eine ambulante Psychotherapie einleiten.“ So wie bei Emilia. Sie hat sich mittlerweile nach stationärer und weiterführender ambulanter Behandlung wieder gut stabilisiert.

Betroffen? Für eine Behandlung ist zunächst ein Kinder- und Jugendpsychiater der richtige Ansprechpartner. Dieser empfiehlt nach entsprechender Diagnostik die richtige Therapieform und überweist die PatientInnen. Bei körperlicher Gefährdung, z.B. einer extremen Gewichtsabnahme, ist der Hausarzt/Kinderarzt der erste Ansprechpartner.