Dirk Kabel ist körperlich ein Wrack, aber sein Lebenswille ist stark. Der 44-Jährige leidet an einer Krankheit, die aus offizieller Sicht eigentlich gar keine ist: 2001 wurde bei ihm eine multiple Chemikaliensensibilität (MCS) festgestellt

Der sicherste Platz für Dirk Kabel ist das Bett. 20 bis 22 Stunden verbringt er an seinem Zufluchtsort, aber wirklich entspannen kann er dort nicht. Oft schmerzt sein ganzer Körper so sehr, dass er beim Liegen durch den Druck des Eigengewichts auf die Matratze kaum auszuhaltende Schmerzen hat. Setzt er sich auf, bekommt er sofort leichtes Fieber, zahlreiche Lymphknoten sind dauerhaft geschwollen, die Knorpel vieler Gelenke zerstört, die Sehnen sind so stark verkürzt, dass er beim Liegen auf seine Bewegungen achten muss, um keine Verletzungen zu verursachen.

Der 44 Jahre alte Mann ist eigentlich ein körperliches Wrack, aber sein Lebenswille ist nicht erloschen. Dirk Kabel leidet an einer Krankheit, die aus offizieller Sicht eigentlich gar keine ist: 2001 wurde bei ihm eine multiple Chemikaliensensibilität (MCS) festgestellt. Sein Körper reagiert sensibel auf Kontakt-Allergene. Davon sind 15 bis 20 Prozent der deutschen Bevölkerung betroffen, doch nur ganz wenige so stark wie Dirk Kabel. Bei ihm lösen schon ganz geringe Spuren von chemischen Substanzen heftige Reaktionen aus. Das hat schleichend begonnen, heute kann er sein Haus an der Nordsee in Schobüll, einem Ortsteil von Husum, praktisch überhaupt nicht mehr verlassen. Wenn überhaupt, dann erst nach Sonnenuntergang. Denn seit 2006 reagiert sein Körper schon nach wenigen Sekunden direkter Sonneneinstrahlung mit Entzündungsschüben und Fieber. Jetzt kann er sich nur in abgedunkelten Räumen aufhalten. „Ich kann mir nicht mehr vorstellen, wie es sich anfühlt, bei Sonnenschein unter Menschen zu sein“, schreibt Dirk Kabel. „Und dann auch noch ohne Schmerzen.“ Bis vor zwei Jahren hatte er noch Hoffnungen, sich wieder unter Menschen bewegen zu können. Jetzt hat er diese Hoffnungen nicht mehr. Eine Unterhaltung mit ihm ist zurzeit nicht möglich, die Kommunikation erfolgt schriftlich.

Gelebt hat Dirk Kabel bis vor einigen Jahren in Henstedt-Ulzburg, wo die Kirchengemeinde Rhen ihn unterstützt hat. Der örtliche Lions Club war auf das Schicksal des Mannes aufmerksam geworden, sammelte Geld, beschaffte ihm ein Reihenhaus an der Nordsee und kommt für die Medikamente auf. Das ist notwendig, weil die Krankenkasse nur einen kleinen Teil der Kosten übernimmt. Zusätzlich hat seine Familie einen Kredit aufgenommen, um ihn finanziell zu unterstützen. Die eigene kleine Invalidenrente, die der frühere Vertriebsmitarbeiter im Außendienst eines Mineralölunternehmens seit 2001 bezieht, reicht nicht aus, um den Lebensunterhalt und die Medikamente zu finanzieren.

Die Krankheitsgeschichte mit den Hauptdiagnosen liest sich wie ein Gesundheitslexikon: Eine schwer verlaufende Toxoplasmose, Gürtelrose, Hirnschädigungen, Arthrosen, Morbus Scheuermann, Pfeiffersches Drüsenfieber, Herzrhythmusstörungen, Tinnitus, ausgeprägte Störung der neuroendokrinen Stressfunktion – es gibt kaum ein Körperteil, das bei Dirk Kabel im Laufe von 25 Jahren nicht in Mitleidenschaft gezogen wurde. Damit wird deutlich, dass für die chronischen Multisystemerkrankungen viele unterschiedliche Faktoren ausschlaggebend sind. Vor allem natürlich auch toxische Belastungen mit diversen Umweltgiften. Kabel ist in einen biochemischen Teufelskreis geraten: Durch die starken dauerhaften Belastungen entstehen immer mehr Funktionsstörungen des Immunsystems, des Nervensystems, des Stoffwechsels und des Hormonsystems. Durch den erhöhten Verbrauch bei chronischen Entzündungsprozessen entstehen immer mehr Mangelzustände und Autoimmunerkrankungen. Eine dieser Folgeerkrankungen ist MCS.

So lässt sich, vereinfacht erklärt, der schwere Krankheitsverlauf bei Dirk Kabel erklären. Viele Ärzte allerdings können mit diesem Krankheitsbild noch wenig anfangen. Dirk Kabel hat, mit Unterstützung von Bekannten und der Familie, versucht medizinische Unterstützung zu finden – meist erfolglos. „Wir haben inzwischen einen Kassenarzt finden können, der einige Blutuntersuchungen gemacht und eine Überweisung zum Radiologen geschrieben hat“, schreibt Dirk Kabel. „Einer der ersten Sätze dieses Arztes war aber, dass er mir nicht helfen könne.“

Viele Krankenkassen übernehmen nicht die Kosten der Behandlungen

Die niederschmetternden Erfahrungen mussten schon viele Menschen machen, die an Umwelterkrankungen leiden. Im Zuge ihrer Recherchen für eine Masterarbeit mit dem Titel „Die unsichtbare Behinderung – Krankheitserfahrungen und Unterstützungsbedarf von Menschen mit MCS“ hat die Berlinerin Katja Materne, 38, festgestellt, dass ein normal ausgebildeter Mediziner psychische Probleme als Hauptursache dieser Krankheit ansieht. Viele Krankenkassen seien deshalb auch nicht bereit, die Kosten der Behandlungen und der Medikamente zu übernehmen. „Viele dieser Patienten sind durch die Behandlung der Ärzte traumatisiert, die Folge ist ein Verlust an Lebensenergie.“ Sie kennt in Deutschland nur eine Klinik, in der MCS-Patienten angemessen behandelt werden können: Die Spezialklinik Neukirchen in Bayern, eine Akutklinik zur Behandlung von Allergien, Haut- und Umwelterkrankungen. Für Dirk Kabel kommt ein Aufenthalt wahrscheinlich nicht in Frage, weil die Krankheit bei ihm zu weit fortgeschritten ist und die Gefahr besteht, dass die in der Klinik verwendeten Desinfektionsmittel einen neuen Allergieschub verursachen würden. Für Katja Materne, die klinische Sozialarbeit studiert hat, ist klar, dass MCS-Erkrankungen zunehmen werden. „Das sind die Patienten der Zukunft“, sagt sie.

Bis zu 20 Prozent reagieren sensibel auf ein Kontakt-Allergen

Das Umwelt Bundesamt unterstützt diese Aussage. Bis zu 20 Prozent der Deutschen reagieren sensibel auf mindestens ein häufiger vorkommendes Kontakt-Allergen, heißt es in einer Presseinformation – zum Beispiel auf Duftstoffe, die in Kosmetika und vielen Produkten des täglichen Lebens enthalten sind. Organisationen und Selbsthilfegruppen für Chemikaliensensible in Deutschland fordern schon seit Jahren eine Umweltklinik nach dem Stand des Umweltgesundheit Centers Dallas (EHC Dallas) in Texas/USA, in dem auch schwerst umweltkranken Patienten geholfen werden kann. Ersatzweise soll es hiesigen Patienten auf Kosten der Krankenkassen ermöglicht werden, zur Behandlung in die USA gebracht zu werden. Das Chemical Sensitivity Network hält dies Forderung für nicht überzogen: Lediglich zwei Prozent aller Chemikaliensensiblen in Deutschland müssten dorthin transportiert werden, um ihr Überleben zu sichern. Zu ihnen gehört auch Dirk Kabel.

Die Krankheit ist rechtlich nicht anerkannt

Davon allerdings wagt er noch nicht einmal zu träumen. Der Lions Club Henstedt-Ulzburg hat beim Sozialgericht Schleswig-Holstein eine Klage gegen seine Krankenkasse eingereicht, denn die übernimmt nur 300 Euro Medikamentenkosten pro Jahr. Rechtsanwalt Claus Bornhöft aus Bad Bramstedt vertritt die Lions, ist selbst aber wenig optimistisch. Die Aussicht auf Erfolg sei gering, sagt er. „Die Krankheit ist eben rechtlich nicht anerkannt, das ist das entscheidende Problem.“

Dirk Kabel muss in Schobüll ausharren und an sich selbst wahrnehmen, dass es ihm immer schlechter geht. Ihm ist klar, dass die Mitmenschen seine Lebenssituation nur schwer nachvollziehen können. Nicht einmal seine eigenen Eltern können das. Ein stützender Faktor in seinem Alltag ist eine Lebensgefährtin, die er seit einiger Zeit hat. Aber auch sie darf sein Reihenhaus nur mit einem Schutzanzug betreten. Sie darf keine Spuren von Parfüm oder Cremes am Körper haben. Selbst ein vor Stunden verwendetes Deodorant kann bei Dirk Kabel Allergieschübe mit Fieber und geschwollenen Lymphknoten auslösen. Eine Influenzagrippe ist nach Auskunft von Ärzten mit größter Wahrscheinlichkeit tödlich. Eine Impfung ist unmöglich: Der letzte Versuch einer Tetanusimpfung hatte massive immunologische Gegenreaktionen zu Folge, ein Schutz aber hat sich nicht aufgebaut.

Die Freundin tut, was sie kann, aber auch die Nahrungsmittelauswahl und -zubereitung ist extrem schwierig. „Auf 80 bis 90 Prozent aller Nahrungsmittel reagiere ich immunologisch“, teilt er mit. Für Dirk Kabel ist die Situation im Augenblick eigentlich hoffnungslos, aber der Lebenswille ist nicht erloschen. Er weiß, dass weltweit viel geforscht wird und es bereits erfolgsversprechende Forschungsergebnisse und Therapieansätze gibt – vor allem in den USA, wo Forschungen ergeben haben, dass die MCS-Erkrankungen organische Ursachen haben.