25 Jahre Mauerfall: Die DDR-Staatssicherheit spionierte auch im Kreis Segeberg und bespitzelte etwa den Landrat und einen geflüchteten Lokführer

Der Wissensdurst der DDR-Staatssicherheit war unermesslich. Minister Erich Mielke hatte eine eindeutige Losung ausgegeben: „Wir müssen alles wissen.“ Die Stasi nahm in erster Linie DDR-Bürger ins Visier, doch auch die Bundesrepublik gehörte zu den wichtigen „Operationsgebieten“. Nicht nur in Bonn, sondern bis in die Regionen der alten Bundesrepublik hinein waren Mielkes Spitzel aktiv. Das Abendblatt hat einen Blick in die Akten geworfen, die Menschen und Geschichten im Kreis Segeberg betreffen.

Der AKN-Lokführer: Bis heute ist unklar, warum Lokführer Helmut P. am 29. September 1994 in Bad Bramstedt den AKN-Triebwagen in Richtung Norden startete, obwohl ein Gegenzug auf der Strecke unterwegs war. Bei der Kollision starben zehn Menschen, 80 wurden verletzt. Die Stasi hatte P. jahrelang beobachtet; er war Republikflüchtling und wurde per Haftbefehl gesucht.

Am 30. November 1975 verlässt P. um 21.30 Uhr im Berliner Bahnhof Zoo den Lok-Führerstand des Transitzuges D339 nach Hamburg und meldet sich bei der Polizei. Um 23 Uhr weiß die Staatssicherheit Bescheid. Der Mann aus Wittenberge kam in einer Eisenbahnerfamilie in Kaltenkirchen unter und wurde beobachtet. Die Beobachter wissen, dass er einen Audi fährt, nach Schweden und Dänemark reist und nicht daran denkt, in die DDR zurückzukehren.

Am Grenzbahnhof Büchen trifft er regelmäßig alte Kollegen. Die Stasi schreibt mit, scheitert aber mit allen Versuchen, Kontakt aufzunehmen.

Bauarbeiter aus der DDR: „Konkreter Feindangriff lag vor!“ schreibt ein Sachbearbeiter der Staatssicherheit am 12.März 1986. Die Späher verfügen über Informationen, dass der westdeutsche Bundesnachrichtendienst im Kreis Segeberg Kontakt zu DDR-Bauarbeitern aufgenommen hat, um sie möglicherweise anzuwerben.

Um an dringend benötigte Devisen zu kommen, übernimmt die DDR Aufträge für Bauarbeiten im Westen – unter anderem am Schinkelring in Norderstedt und An der Trave 77–83 in Bad Segeberg. Die Männer wohnen in Unterkünften in Bad Segeberg, Kaltenkirchen, Leezen und Tangstedt-Wilstedt. Offenbar hatte die Stasi Funksprüche oder Telefonate angezapft und dabei die Kontaktaufnahme mitgehört.

Aus den mitgehörten Wegbeschreibungen („Möbelhaus, eine größere Einrichtung“) werden die Spitzel jedoch nicht schlau. In der Akte liegen Kopien aus Telefonbüchern mit allen Einträgen, die mit dem Wort Möbel beginnen. Die „Ermittlung für den Großraum Bad Segeberg“ endet ohne Ergebnis.

Bauarbeiter aus der DDR II: „Sehr geehrter Herr Honecker!“ So beginnt der Brief einer Frau aus Bad Segeberg, die am 6. August 1984 „im Namen der Bewohner vom Konrad-Adenauer-Ring“ an den SED-Chef und Staatsratsvorsitzenden der DDR schreibt. Immer wieder haben die Bewohner der Straße versucht, die Arbeiter eines volkseigenen Betriebs aus Halle, die seit Wochen in der Nachbarschaft Häuser bauen, zum Grillen einzuladen.

„Wir wollen aus rein menschlichem Interesse den Arbeitern eine Party geben und meinen, daß sie gerne kommen würden“, schreibt die Segebergerin und beklagt, dass die Idee am Vorarbeiter scheitert. Er hat alle Einladungen abgelehnt. Der Brief endet mit den Worten: „Dürfte ich Sie bitten, die nötige Erlaubnis zu erteilen?“ Eine Antwort hat die Frau nie erhalten.

Fußball-WM 1974: Mit einem Mercedes reist am 2. Juli 1974 eine Frau aus Quickborn über den Grenzübergang Marienborn für einen Tag in die DDR ein. Die Dame ist bekannt: Sie hat im Sporthotel Quickborn gearbeitet, als dort die Fußballnationalmannschaft der DDR einquartiert war. Besonders interessieren sich die Stasi-Mitarbeiter für die Gespräche mit den Spielern. Die DDR-Nationalspieler Jürgen Sparwasser und Jürgen Pommerenke sollen beispielsweise gesagt haben, dass sie sich vorstellen könnten, Profi im Westen zu werden. Allerdings – so ihre Einschränkung – habe die DDR „in Fragen der sozialen Sicherheit“ mehr zu bieten.

Außerdem berichtet die Frau während der Befragung, dass es zwischen dem DDR-Cheftrainer Georg Buschner und zwei Spielern zu erheblichen Kontroversen gekommen war. Angeblich war sie bei Mannschaftsbesprechungen dabei gewesen.

„Sehr kontaktfreudig“: Den Grenzkontrolleuren entgeht kein Detail, als der Mann aus Alveslohe am 1. Juni 1986 mit seinem beigefarbenen Renault am Grenzübergang Selmsdorf auftaucht Die Stasi kennt ihn bereits, er war mehrfach mit Gruppenreisen in der DDR unterwegs. „Der Reisende ist sehr kontaktfreudig, beginnt die Gespräche von sich aus“, heißt es in dem Bericht über den Reisenden. Besonders fällt den Kontrolleuren ein Aufkleber auf, der die beiden deutschen Staaten getrennt voneinander, aber durch einen Händedruck verbunden zeigt.

Der Mann wird – vermutlich ohne es zu ahnen – während seiner DDR-Besuche beobachtet. In Halle schreibt ein Beobachter über seine „vielfältigen Aktivitäten“, auf der Straße mit jungen Leuten ins Gespräch zu kommen. Die Stasi weiß, dass er telefoniert, um mit Bekannten in Saalfeld Kontakt aufzunehmen und sich mit Familien trifft. Die Beobachter vermuten, dass es sich um „kirchliche Kreise“ handelt. Den Aufkleber darf der Alvesloher behalten.

„Extremistische Elemente“: Die Staatssicherheit schreibt am 22. Oktober 1981 eine „Information über umfangreiche Aktivitäten revanchistischer und entspannungsfeindlicher Elemente im Kreis Bad Segeberg/Schlesw. Holstein, in Zielrichtung VR Polen.“ Misstrauisch beobachten die Späher aus der DDR die von „führenden extremistischen Elementen“ organisierte Hilfe für die Menschen in Polen. Der Bericht stammt von der Hauptabteilung VIII, zuständig für Ermittlungen, heimliche Fotoaufnahmen, Videoüberwachung und verdeckte Wohnungsdurchsuchungen.

Besonders aufmerksam beobachtet die Stasi die Aktivitäten von Segebergs Landrat Anton Graf Schwerin von Krosigk, der die Schirmherrschaft für die Aktion übernommen hatte. In vielen Geschäften im Kreis Segeberg hingen Aufrufe, Pakete für die Menschen in Polen zu packen. Die lokale Presse habe einen „umfangreichen Propagandarummel“ gestartet. Ein Generalmajor der Stasi schrieb den Landrat DDR-weit zur Fahndung aus. Sämtliche Grenzübergangsstellen inklusive des Flughafens Schönefeld wurden angewiesen, jedes Detail seiner Reisen zu dokumentieren. In den folgenden Jahren entstanden dann diverse Berichte über das „Fahndungsobjekt 207 545“.

Abgehört: Wer im Kreis Segeberg – privat oder beruflich – Funkgeräte benutzt hat oder telefonierte, musste damit rechnen, von der DDR-Staatssicherheit abgehört zu werden. Direkt an der innerdeutschen Grenze stand bei Selmsdorf 30 Meter über dem Meeresspiegel ein Empfänger. 111 Funkkanäle waren im Osten Schleswig-Holsteins belegt, stellten die Horcher fest. Dazu zählten auch Frequenzen der Bundeswehr. Die Stasi konnte auch beim „allgemeinen öffentlichen Telefonieverkehr“ mitlauschen, wenn er per Funk übertragen wurde.

Ein IM aus Norderstedt: Am 10. Oktober 1959 wirbt die DDR-Staatssicherheit den Norderstedter Gerhard G. als Inoffiziellen Mitarbeiter im oder für einen besonderen Einsatz (IME). Treffpunkt ist ein Raum im Volkspolizeirevier an der Stalin-Allee in Ost-Berlin. Der 1926 geborene G. war in der DDR aufgewachsen und zog Ende der 50er-Jahre nach Schleswig-Holstein. IME „Gottfried“ arbeitet zunächst im Hamburger Hafen, dann in der Hafenbehörde. Er fühle sich der Arbeiterklasse verbunden, heißt es in den Akten.

IME „Gottfried“ hat den Auftrag, in Hamburg „feindliche Dienststellen und Objekte“ auszukundschaften. Dazu gehören der strategisch wichtige Hafen und Einrichtungen der Bundeswehr. Gerhard G. schießt auch Fotos. Bis in die später 70er-Jahre spioniert der IME und arbeitet eng mit seinem Bruder zusammen, der ebenfalls als IM geführt wird („Dieter“) und sich um die konspirativen Verbindungen kümmert.

Mit den Fotos des IME „Gottfried“ sind seine Auftraggeber jedoch nicht zufrieden. „Zur Erreichung qualitätsgerechter Fotoaufnahmen wird der IM mit der Handhabung der Kamera vertraut gemacht“, schreibt sein Führungsoffizier am 9. Januar 1979.