Der literarisch ambitionierte Finanzhauptsekretär Tobias Sommer ist für den Ingeborg-Bachmann-Preis nominiert

Im Wohnzimmer brodelt das Leben. Marla ist aufgeregt, weil sie zum Schlaffest in den Kindergarten muss. Mama Jule sucht ihre Sachen zusammen, Papa Tobias sitzt mit dem Gast am Esstisch und versucht, sich auf das Gespräch zu konzentrieren. „Das Schlaffest hatte ich ganz vergessen“, sagt er. Das kann passieren, wenn Tag für Tag so viel passiert.

Und im Leben von Tobias Sommer wird zurzeit vieles auf den Kopf gestellt: Dieser Mann, 36 Jahre alt, die langen Haare zu einem Zopf gebunden, ist Finanzbeamter. Das ist nicht aufregend. Der Finanzhauptsekretär ist für Freiberufler und Gewerbetreibende tätig, das tägliche Jonglieren mit Zahlenreihen ist sein Leben seit der Ausbildungszeit, die er gleich nach Abschluss der Realschule Wahlstedt beim Segeberger Finanzamt begonnen hat. Einerseits. Andererseits aber führt er auch ein ganz anderes Leben: Tobias Sommer ist Schriftsteller. Und er dürfte der einzige Finanzbeamte im mittleren Dienst sein, der je für einen der renommiertesten Autorenpreise im deutschsprachigen Raum nominiert worden ist. „Ingeborg-Bachmann-Preis 2014 – ich bin dabei“ schreibt der Segeberger ganz oben auf seiner Homepage. Und der Stolz und der Jubel ist aus diesem Satz förmlich herauszulesen. Viele Schriftsteller würden alles geben, um einmal im Leben in die Nähe dieses Preises zu kommen. Anfang Juli wird er verliehen.

Tobias Sommer ist kein Freizeitschriftsteller, der abends und an den Wochenenden fröhliche Lektüre für den raschen Genuss fabriziert. Fast-Food-Literatur mit viel Klamauk, das ist nicht seine Sache. Die zwei bisher veröffentlichten Romane, die Kurzgeschichten und auch die Gedichte sind vielschichtig und manchmal abgründig. Er blickt tief in die Seelen seiner Protagonisten. In „Edens Garten“, dem Roman von 2012, ist ein von Eifersucht gequälter Ex-Dolmetscher die Leitfigur. Er überwacht seine Frau nachts per Videokamera, erkennt dabei aber Abgründe, die in ihm selbst schlummern. Verschwimmende Wirklichkeiten, Träume, die immer gewaltsamer werden – das ist harter Stoff, dessen Sogwirkung sich der Leser nicht entziehen kann. Absurder ist der Plot seines ersten Romans „Dritte Haut“, 2011 erschienen. Der Besitzer eines Hotels ritzt sich die Geschichten der Gäste in die Haut, sodass ein Barcode entsteht. Als Hauptfigur hat Tobias Sommer einen geistig behinderten Menschen gewählt, um beim Schreiben Freiraum für das Spielen mit den Formen zu haben.„Bei diesem Roman habe ich um jeden Satz gerungen, ihn konzipiert und gemeißelt, beim zweiten Buch habe ich mehr Wert auf die Geschichte gelegt“, sagt Tobias Sommer, dessen Romane beim Wiener Verlag Septime erscheinen.

Anspruchsvolle Literatur also, die nicht stapelweise über den Ladentisch gereicht und nicht massenweise verschlungen wird. Die aber bei Literaturkritikern Aufmerksamkeit findet. So viel Aufmerksamkeit, dass er jetzt gebeten wurde, beim Wettbewerb um den Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt eine noch nicht veröffentliche Kurzgeschichte vorzutragen. Aber auch vorher sind schon andere auf Tobias Sommer aufmerksam geworden. 2013 bekam er den Förderpreis für Literatur der Stadt Hamburg, gerade wurde ihm das Arbeitsstipendium der Kulturstiftung des Ministeriums für Kultur des Landes Schleswig-Holstein 2014/2015 zuerkannt. Viele Preise und Auszeichnungen zieren seine Homepage.

Ein Jongleur der Zahlen, der in seiner Freizeit mit Wörtern jongliert und sie zu anspruchsvollen Geschichten formt. Passt das zusammen? Eigentlich nicht wirklich. Aber Tobias Sommer liebt beides. Den Hauptberuf als Finanzbeamter würde er, so sieht er es jedenfalls jetzt noch, niemals aufgeben wollen. Höchstens von der Stundenzahl her reduzieren, wenn er von der Schriftstellerei eines Tages leben könnte. Er fühlt sich wohl in seinem Doppelleben: Tagsüber Büro, abends, nachts, an den Wochenenden und gelegentlich am frühen Morgen das Schreiben. Meistens am Esstisch des neuen Einfamilienhauses in Bad Segeberg, manchmal in der Couchecke, seltener im Arbeitszimmer. 20 bis 30 Seiten im Monat. Das ist zumindest das grobe Ziel. „Wenn ich eine Stunde Zeit habe, arbeite ich sehr intensiv“, sagt Tobias Sommer, der aber auch nicht über das Ziel hinausschießen will. „Die Familie hat Vorrang.“ Lebensgefährtin Jule, die selbst viel mehr liest als er selbst, unterstützt ihn.

Er redet so, wie er wahrscheinlich schreibt: Die Sätze werden abgewogen und überdacht, bevor sie an das Ohr des Zuhörers gelangen. Die Unterhaltung ist aber trotzdem nicht stockend oder gar langweilig. Tobias Sommer hat viel zu sagen, denkt in Kladde, spricht in Reinschrift. So wie im wirklichen Schriftstellerleben: Der Autor hat immer ein Merkheft bei sich, in das er spontane Einfälle schreibt, die er später ins Manuskript einarbeitet. Darin stecken auch die Ideen für kommende Romane. Der nächste ist fertig, bekommt gerade in Zusammenarbeit mit dem Lektorat seinen Feinschliff, erscheint im Frühjahr 2015. Gerne aber auch früher, wenn es mit dem Bachmann-Preis klappen sollte. Der übernächste Roman ist auch schon skizziert. „An Einfällen mangelt es mir überhaupt nicht“, sagt der Autor selbstbewusst.

Als Realschüler hat Tobias Sommer nichts Auffälliges geschrieben, hatte nie den Wunsch, Schriftsteller zu werden. Aber gelesen hat er und sich für Kunst interessiert. Die ersten selbst geschriebenen Kurzgeschichten und Gedichte schickte der Segeberger an Literaturzeitschriften, die sie auch veröffentlichten. 2005 erschien der erste Erzählband („Meer über uns“) zwischendurch wurden Schreibwettbewerbe gewonnen. Aber der Schritt zum ersten veröffentlichten Roman war kein leichter: Verlage lehnten ab, Agenturen konnten nicht helfen. Dann kam der Zufall ins Spiel: Der Wiener Verlag Septime wurde durch eine Kurzgeschichte in der Literaturzeitschrift „Volltext“ auf ihn aufmerksam und fragte an, ob er sich vorstellen könne, einen Roman zu schreiben. Inzwischen hat er viele Vorlesungen gegeben und war auch schon Gast auf der Frankfurter Buchmesse.

Es hat sich auch im Finanzamt herumgesprochen, dass in einer Amtsstube ein Literat von Format sitzt. Die Kritiken der Kollegen fallen wohlgefällig aus, gelobt wird sein Einfallsreichtum. Aber das sind Aussagen, die sich Sommer schenken kann. Kein Kollege würde vermutlich Kritik äußern, das ahnt er. Wirklich wichtig sind die Aussagen der professionellen Kritiker. Ob er nicht mal etwas über das Finanzamt schreiben könne? wird er gefragt. Er kann: Um den Ingeborg-Bachmann-Preis bewirbt er sich mit einer Geschichte, die unter anderem in diesem Milieu spielt. Sollte er damit gewinnen, wäre das Finanzamt sozusagen auf einem ganz anderen literarischen Level angelangt.